Was diese Frau so alles treibt

Von der Faszination der Modulationen/Variationen/Metamorphosen

Es gäbe ja so viele Möglichkeiten!

Ich könnte Aquarelle oder Pastelle machen, vielleicht auch Holz- oder Linolschnitte, Radierungen, vielleicht sogar mit Applikation oder Stickerei experimentieren oder einfach nur zeichnen, mit Feder, Pinsel oder Stift.

 

All das habe ich schon mit unterschiedlichem Erfolg probiert, und all das macht Spaß!

Und das Interesse daran und die Erfahrung damit spiegeln sich in so mancher Bildidee.

 

Aber ich komme einfach nicht vom Bildschirm und vom Touchpad los, seit ich entdeckt habe, dass allein meine Fingerspitze der Schlüssel zu unfassbar endlosen Bildwelten ist. Denn hier kann ich mühelos und ohne Verluste und Risiken modulieren und variieren, aufbauen und zerstören, hinzufügen und reduzieren – und ohne Reue Grenzen überschreiten.

 

Jeder Schritt, geplant oder spontan, birgt eine Überraschung, manchmal auch eine böse, aber das macht ja auch nix! Lassen wir’s links liegen und probieren etwas Neues! Es geht alles ziemlich schnell (allerdings nicht mehr, wenn’s komplizierter wird), nimmt keinen Platz weg (außer im Speicher) und kostet kein Geld (solange es nicht ausgedruckt oder möglicherweise sogar gerahmt wird)! Und noch immer sind nicht alle Optionen der Programme auch nur annähernd ausgeschöpft.

 

Jedoch fällt es selbst mir im Nachhinein oft schwer, die Schritte und Prozesse zu rekonstruieren, die ein bestimmtes Ergebnis – nur einen Effekt oder sogar eine Expression – hervorgebracht haben. So bleiben die Bilder, da nur als Datei entstanden, zwar unendlich reproduzierbar, aber paradoxerweise trotzdem Unikate – selbst ich könnte sie nicht genauso wiederholen.

 

Immerhin helfen die Bildtitel ein bisschen, denn mit den Beifügungen von Buchstaben zum Namen der „Mutter“, also des Ursprungsbildes, lassen sich zumindest solche markanten Schritte wie Farbumkehrung, wechselweise und auch mehrfach wiederholte Verwandlungen in Grafik oder Aquarell und andere Fotobearbeitungsphasen wenigstens quantitativ kennzeichnen.

 

Doch z. B. die Graduierung diverser Transparenzstufen beim Überlagern, besonders das sehr diffizile Überlagern einer Farbvariante mit ihrem Gegenpol, was im besten Fall zu mystisch-nebulösen Wirkungen führen kann, aber auch einfach nur zum Verschwinden des Bildes in grauer Suppe, bleibt mir als Vorgang ebenso mysteriös wie das das gelegentliche Bildergebnis dem Betrachter. Und mit keinem Pinsel der Welt hätte ich dieses Sfumato hingekriegt.

 

Dabei begann alles ziemlich harmlos und noch relativ leicht nachvollziehbar mit der Kaleidoskop-Funktion bei SUMO von Bamboo: Ich liebe seit meiner Kindheit diese Zauberröhrchen mit den bunten Glassteinchen im Spiegeltanz und wirbelte also auf dem Bildschirm mit Spaß Linien und kleine stempelartige Bildelemente, später auch plastisch-körperhafte Bildzeichen in allen Farben vielfach umeinander, bei Überlagerungen dann mit immer wieder unterschiedlicher Anzahl der Wiederholung, damit das Spiel nicht zu mathematisch exakt bliebe.

 

Doch noch ergiebiger, weil nicht nur zentriert einsetzbar, sondern auch mehrfach und mittels Hell-Dunkel auch plastisch bis hin zu Raumtiefe mit Sogwirkung zu variieren, zeigte sich die dem Kaleidoskop und dem vergleichbaren Mandala verwandte Spiralfunktion, die auch winklig-kantige Varianten bereithält – bei Überlagerung in der räumlichen Wirkung noch gesteigert durch Inverse-Effekte der Farben an den Schnittstellen.

 

Eine Herausforderung an die legere und zugleich dynamische Handhabung des Stiftes, später nur noch der Fingerspitze, stellt ein SUMO-Tool dar, das der Handbewegung folgend geometrische Formen fedrig aufblättert. Dekorativ-labyrinthische Verwirrung mit exotischen Flair dagegen läßt sich mittels des Bamboo-Programms LiveBrush erzeugen.

 

Und all das und noch viel mehr (z. B. auch ein hinzugezogenes Foto mit einem formal geometrisch ähnlich strukturierten Motiv wie etwa eines Baumes oder einer Blüte) potenziert sich in der Kombination, vor allem durch Überlagerungen in unterschiedlichen Transparenzstufen. Das weiter und weiter zu treiben, ohne die letzten Spuren der „Mutter“ verloren zu geben, ergibt Modulationsreihen eines Bildthemas, die in Gestalt von Metamorphosen zu dessen diversen inhaltlichen Interpretationen führen können.

 

Inhalt? Welcher Inhalt???

Darüber lässt sich natürlich trefflich streiten.

 

Zumindest für mich verschmelzen direkt während des Arbeitens aus den gestalterischen Spielräumen der Technik heraus assoziierte, stark sinnlich geprägte Erinnerungen an natürliche Vorgänge und erfahrene Situationen mit der gewollten Expression langfristig gewachsener oder akut entstandener innerer Affinitäten (zum Beispiel zu Wasser, von dem ich bis heute oft sehnsüchtig träume – wie auch die zahlreichen Spiegelungen als Überschwemmungsvisionen bezeugen) und temporäre wie dauerhafte Empfindungen in zeichenhaften Formulierungen von Wunsch-Träumen.

 

Einfache Form- und Farbzusammenhänge in ihren spezifischen Verhältnissen zueinander und ihren Bewegungen mit- und gegeneinander werden so zu den entscheidenden Trägern von Aussagen über meinen Blick auf die Welt und auf mich in ihr.

 

Einerseits vollzieht sich der Entstehungsprozess in den ersten Schritten schnell und damit von spontanen Erlebnissen und auch Überraschungen der Technik beeinflusst, andererseits benötigen die sich anschließenden Metamorphosen geistig und materiell oft größere Zeiträume des Überdenkens und Erprobens mit all den Irrwegen und Fehlschlägen, die Experimente ins Ungewisse mit sich bringen – denn rein bildnerische Vorbilder für meine Arbeit konnte ich noch nicht finden, wohl aber inspirierenden Austausch mit wenigen Gleichgesinnten.

 

Die spielerisch leichte Handhabung der Programme und damit zügige Realisierung der Bild-Träume fordert jedoch die Lust am Variieren, Modulieren und Verwandeln geradezu heraus.

 

Das betrifft auch die Bearbeitung von Fotos, die allerdings schon mit einem klaren Bildprogramm im Kopf entstehen, das eine individuelle Sicht auf die Auswahl und den Zuschnitt der Motive bereits vorgibt; für mich entscheidend ist dabei ein für die Situation charakteristischer, bildbestimmender Ausdruck des Lichts.

 

Die Wirklichkeit der Welt ist bildgewaltig und in ihr noch einmal auf besondere Weise die Kunst – beide zusammen schaffen eine eigene überwältigende Wahrheit.

Bin ich ihr auf der Spur?

 

Erfurt/Halle, Januar/Februar 2015  |  Dr. Jutta Lindemann