„Die Wirklichkeit ist das, womit man unter gar keinen
Umständen zufrieden sein … darf … Und sie ist … auf keine
andre Weise zu ändern, als indem … wir zeigen, daß wir
stärker sind als sie“, schrieb Hermann Hesse vor rund 100 Jahren …
… und zitierte ich ebenfalls bereits vor 10 Jahren auf einer Vernissage für Ute Zyrus. Und eigentlich hätte ich es mir leicht machen und wieder in meine eigene virtuelle Manuskriptkiste greifen können, denn da hat sich seitdem unter Z wie Zyrus genug angesammelt, da ich ja immer mal wieder für sie in die Rede-Schranken treten darf.
Aber abgesehen davon, dass es zunehmend schwieriger wird, aus alten Teilen wirklich etwas Neues zu puzzeln (das ist anstrengender, „als wie man denkt“ – Zitat Verena Pooth), verbietet es inzwischen weitgehend auch der Gang der Entwicklung.
(Das ist natürlich nicht weltpolitisch gemeint, sondern rein individualkünstlerisch!) Obwohl, der Hesse gilt noch immer.
(Ob vielleicht auch der Karl Marx noch immer …? Wird man doch in einer Kapitalsammelstelle wie hier mal fragen dürfen, oder?)
Aber ansonsten …? Eigentlich ist das gemein von den Künstlern gegenüber den Laudatoren, immer wieder neue Ideen auszubrüten!
Oder sind sie vielleicht doch gar nicht sooooo neu? Schaun mer mal!
Und das ist sehr wörtlich gemeint, denn alles Gerede ist Schall und Rauch, wenn man die Bilder nicht wirklich genau ansieht – davor, dabei oder danach – am besten immer! Und ruhig ganz nahe herangehen, die Alarmanlage funktioniert nicht …
Dann sehen Sie alles, was ich jetzt behaupten werde, sowieso selbst!
Aber ich versuche es trotzdem mal, und natürlich sind einzige und beste Helfer die Bilder selbst, die heute hier zu sehen sind.
Und mir scheint, die Farbradierung „Aus dem Stein“ ist in Titel, Idee und Ausführung geradezu symptomatisch und damit ein Schlüssel für den status quo bei Ute Zyrus.
Es zeigt aufsteigend drei Stadien auch ihrer bildnerischen Metamorphosen, die Häutungen gleichen, von der mühevoll erarbeiteten Ebene kubisch-tektonischer Kompositionen über eine fast mystisch-symbolische Naturabstraktion bis hin zu figurativen Formfindungen von sinnbildhafter Aussageabsicht.
Vor rund 20 Jahren demonstrierte eine der ersten Erfurter Ausstellungen der Künstlerin, die ich sprachlich begleiten durfte, ihre ersten Schritte von der malerisch-impressiven Auseinandersetzung mit architektonischen Strukturen, die sich in opaken Farbreliefs aufzulösen begannen, in die philosophisch motivierte expressive Abstraktion einer kristallinen Formwelt, folgerichtig verknüpft mit der Entdeckung transparenter Farbschichtung und dem Aufbrechen von Räumen und Perspektiven mittels komplizierter linearer Konstruktionen – und all das durchaus auch und vermutlich sogar zuvörderst metaphorisch gemeint.
Zu entdecken war damals ein Traumlabyrinth, gewachsen aus Mystik, Malerei und Mathematik, die schillernde Faszination eines Wachtraums zwischen Architektur und Abgrund, Kristallwelt und Kulissensprung, Gedankenstrenge und Gefühlsverwirrung. Die Brücken der Malerei waren trügerisches Spiel, schwankend unter dem ersten festen Schritt über das Niemandsland zwischen den Welten, zwischen Außen und Innen, zwischen der Wirklichkeit diesseits und allen Wünschen, Träumen, Ängsten jenseits der Spiegel, der Wände – außerhalb aller Rahmen, doch mit der Doppelbödigkeit alles Wirklichen, der Dualität alles Menschlichen – ein Sein hinter dem Sein, das real genug ist, um das Diesseits nachhaltig zu durchdringen und zu beherrschen.
Nacherlebbar über diese immer wieder gesprengten strengen Gliederungen der Geometrie, über diese immer wieder von warmen, hellen Farben überstrahlten kühlen Töne war und ist in jedem Fall ein Seelenzustand manchmal verzweifelter, doch immer wieder hoffnungsvoller Suche nach Fluchtwegen, die hin zu Klarheit und Wahrheit führen. Doch durch all die Mauern, Türen, Gitter, Netze, Brüche, Risse, Sprünge – Durchbrüche in andere Räume hinter dem Sichtbaren, Fluchtversuche in andere Welten – durch all die Trübnis, Wirrnis, Ängste, Zweifel dringt behutsam, doch unaufhaltsam das Licht künftiger Möglichkeiten.
Es bezieht seine Leuchtkraft aus der Energie unserer Visionen, aus der Stärke unseres Selbstvertrauens und aus dem Mut zu Veränderungen in uns und um uns, wie die Kunst sie uns vorlebt.
In den letzten Jahren erwuchs daraus im wahrsten Sinne die nahezu mikroskopische Auseinandersetzung mit dem tektonischen Prinzip des Kosmos Natur, manifestiert zunächst vor allem im organid-floralen Strukturgefüge von Knospen, Samenkapseln und Früchten.
Den Weg dorthin bereitete eine über Jahre zunehmende Sensibilisierung für die Ausdruckswerte der Linie, die sich sukzessive aus mathematischer Exaktheit befreite, um über immer inhaltlich getragene, doch noch eher rational gesteuerte geometrische Brechungen hin zum stärker emotional empfundenen freien Fluss zu streben, jedoch bewußt zwischen beiden Polen oszillierend, und dies mit durchaus ambivalenten Wirkungsabsichten.
Noch immer unübersehbar wirkt sich dabei die seinerzeit schon exotische und heute leider gar nicht mehr vorstellbare, aber eigentlich echt visionäre Fachkombination Mathematik und Kunst auf das Kunstkonzept der weiterhin praktizierenden Lehrerin Ute Zyrus aus.
In ihrer Bildwelt verbinden sich seither fließend geformte und geometrisch konstruierte, offene und geschlossene, einander überlagernde und durchdringende, vor allem aber erlebte und geträumte Räume durch Wege hinein und hinaus miteinander zu einem riesigen Weltlabyrinth im eigenen Kopf – zögernd und doch voll der ungehemmten Abenteuerlust eines Parzival oder Simplizissimus zu erwandern mit Geist und allen weit offenen Sinnen – auf der Suche nach dem Gral der ewigen Wahrheit oder dem Paradies des inneren Friedens – oder aber nach erneuten Fragen, die manchmal auch ohne Antworten bleiben und bleiben müssen.
Die Beschäftigung mit solcherlei Wandlungsprozessen bleibt letztlich nicht ohne Folgen für die eigene künstlerische Haltung:
Wer die Spuren der inzwischen nicht nur in der Thüringer Kunstwelt erfolgreich präsente Malerin und Grafikerin, die sich über Jahre intensiver Auseinandersetzung mit den einander durchdringenden Gesetzen von Kunst und Wirklichkeit sukzessive ein unverwechselbares Profil erarbeitet hat, aufmerksam bis in die Gegenwart verfolgt, entdeckt tatsächlich immer neue Indizien, die die Verdächtige selbst als unheilbar wandlungsfähig identifizieren – charakterisiert durch immer neue, doch zielsicher in den Gesamtkontext ihres Konzepts eingebettete Variationen und Brechungen ihrer Themen und ihrer Handschrift – symbolisiert in zahlreichen Schlüsselbildern mit dem Titel „Metamorphosen“.
So verschmolzen bereits in den letzten Jahren in ihrer nun immer stärker von klaren Liniengefügen getragenen und immer deutlicher grafisch akzentuierten Bildsprache nahezu mühelos Technoides mit Organidem, Gebautes mit Gewachsenem in einer trotz oder vielleicht auch gerade wegen aller Kontraste geradezu märchenhaften Harmonie, voll ausgeglichener Gelassenheit und Spiritualität.
Seit sich der Focus der bildnerischen Aufmerksamkeit von Ute Zyrus nunmehr von der großzügigen Perspektive architektonischer Welten und Gegenwelten im Spiegel seelischer Strukturen stärker auf den Mikro-Makro-Kosmos der floralen Dingwelt in den selbstverständlichen wundersamen Wandlungen zwischen Klarheit und Wirrnis, Härte und Sanftmut, Sinnlichkeit und Sachlichkeit, Erstarrung und Erwachen richtet, formen sich aus Liniennetzen immer wieder die kristallin gebrochenen Konturen differenziert durchgegliederter Körper von Knospen, Kapseln, Kokons in verschiedenen Stadien in der Balance zwischen frei wucherndem Gewächs und geometrisch geformtem Gegenstand, oft wie durch eine Nabelschnur miteinander verbunden.
Nachvollziehbar wird, wie Gewachsenes und Geformtes letztlich gleichen Gesetzen folgen.
Allerdings wird aktuell auf einer dritten Station der bildnerischen Reise immer häufiger die mehrdeutige Durchdringung von Bildebenen mittels transluzider einander überlagernder Farbflächen aufgegeben zugunsten eindeutiger gekennzeichneter Wandlungsprozesse innerhalb einer Ebene. Über florale Formulierungen hinaus werden nun zunehmend humanoide Figurationen entwickelt, die ihre Bindung an vorausgegangene Stufen ihrer Metamorphosen zwar nicht leugnen, jedoch unumkehrbar zu überwinden versuchen.
Deutlich trennen außerdem unterschiedliche Farbprogramme auch Arbeiten voneinander, die beide Auffassungen noch rein verkörpern: Gläserne blaue Kühle, nur sparsam von warmen Tönen akzentuiert, überzieht viele der zartlinig-geometrisch abstrakten Kompositionen der ersten Kategorie – die beiden Gruppen des Floral-Dinglichen und des Humanoid-Figurativen dagegen, kraftvoller im Strich, kaum noch abstrakt, sondern eher surrealistisch im Gesamt-Bildkonzept wie in der Detail-Formulierung, prägen erdschwere Oliv- und Orangetöne.
Wenn jedoch beide Themenwelten miteinander verschmelzen, überlagern und durchdringen sich auch die beiden Farbprogramme.
Die philosophische Intention, aus der das Bildprogramm erwächst, hat sich damit erweitert, wenn auch immer unter dem Leitgedanken der Metamorphosen. Immer jedoch führt der Weg der Wandlungen heraus aus dem Stein, aus der Knospe, aus der Verstrickung und Umklammerung des Vergangenen.
Und immer sind es Frauen, Demeter, Eva, Venus und auch namenlose Göttinnen, allein oder in Konfrontation mit einem Gegenüber – Partner oder Feind – die uns, zwar von Zweifeln und Selbstzweifeln geschüttelt, stets gefährdet und trotzdem selbstbewusst bis zum Stolz, manchmal fast schon zu demonstrativ, trotz allem ihren nahenden Triumph über alle Versteinerungen, Verkrustungen und Verkapselungen sinn- und augenfällig machen. Sie wachsen im tiefsten Wortsinn über sich hinaus.
Diese femininen Aspekte – nicht nur in der Gestalt der Zeusschwester Demeter als lebenspendender und –erhaltender Muttergöttin, zuständig für die Fruchtbarkeit der Erde im dafür erforderlichen Wechsel der Jahreszeiten – beleben die gewachsenen wie die gebauten Stein- und Dingwelten mit der kraftvollen Wärme ihrer Mütterlichkeit, zeigen jedoch zugleich eine recht sperrige, widersprüchliche Fruchtbarkeit im Nebeneinander und oft auch Gegeneinander von Werden und Vergehen.
Unter diesem Blickwinkel lassen sich denn auch die tektonisch gefügten Samengefäße neu betrachten, denn sie sind gefüllt mit künftigem Leben, abwehrbereit schutzgepanzert und zugleich fragil.
Goethes Pantheismus scheint in plausible Nähe gerückt, der Materie und Geist im Spinozaschen Sinne als zwei Seiten einer einheitlichen, ewigen Gott-Natur sah, die Wille und Vernunft mit Güte und Liebe verbindet und die Welt in allen ihren Teilen vom Höchsten bis zum Geringsten einer Ordnung der Schönheit unterwirft, die alles Lebendige verbindet und das göttliche Prinzip noch im Kleinsten auf ewig aufgehoben findet.
Inzwischen perfekt beherrschtes Handwerk ermöglicht Ute Zyrus in der Ölmalerei ebenso wie in den inzwischen dominanten Farbradierungen einen transluziden seidig-aquarellhaften Farbauftrag, der den schwebenden Charakter der wie von innen leuchtenden, sanft modulierten Flächen den federnden, gleitenden, springenden und fließenden Liniengittern adäquat zugesellt – verhalten changierend, irisierend zwischen den jeweils kühlen oder wärmeren Tonwertskalen.
So, wie die Linie zunehmend inhaltlich ordnende wie formal gliedernde Aufgaben in einem immer logisch durchdachten Bildaufbau übernommen hat, verbindet das konsequent auf den Orange-Blau-Komplementär- und Temperaturkontrast reduzierte durchgängige Farbkonzept die Arbeiten aller Themengruppen wie eine logische Gedankenkette miteinander. Diese scheinbare Einengung der gestalterischen Palette scheint nur auf den ersten Blick langweilig oder phantasielos. Tatsächlich hält sie die Elemente des Gesamtkonzepts kompatibel, denn sie konzentriert unsere Wahrnehmungen bei aller Vielfalt der einzelnen Teile auf die Variationsmöglichkeiten der philosophischen Grundidee.
Und das aktiviert eine gehörige Portion eigener Phantasie, Sensibilität und Lebenserfahrung in jedem, der sich auf ihre Kunst einlässt.
Am Ende fügt sich alles zu einem kleinen, aber auch nicht zu übersehenden und jederzeit in sich stimmigen Kunst-Kosmos, innerlich verbunden durch kontemplative Ruhe – denn Spektakel und Furore um ihre Person ist Ute Zyrus’ Sache nicht – erlebbar als ein gewachsenes, durchaus beachtliches künstlerisches Ouevre von ganz eigener Ausstrahlung, das uns durch seine stille Kraft auf besondere, fast magische Weise – heiter und zugleich nachdenklich – in den Bann zieht.
Und ich meine, es könnte sich lohnen, dieser Künstlerin und ihren Geschöpfen auch künftig auf der Spur zu bleiben.
Halle/Erfurt, November 2010 | Dr. Jutta Lindemann