Textiles querbeet

Vernissage zur Ausstellung der Thüringer Textilgruppen unter Anleitung von Gerlinde Rusch in den Stadtwerken Arnstadt am 06.11.2003

„Die Spitzenklöpplerin“ war einer unserer Kultfilme in den späten Siebzigern oder frühen Achtzigern.

Warum allerdings der Film so heißt, obwohl darin auch nicht ein einziges Fädchen umeinander geknotet wird, wurde mir erst klar, als ich selbst zum ersten – und leider seit langem zum letzten – Mal unter der Anleitung von Gerlinde Rusch einige Jahre später diese kleinen gedrechselten Holzstöckchen, die an Schnüre gebunden über eine stoffbezogene Walze herunterbaumeln, kunstvoll umeinanderzuwerfen begann und mit Staunen unter meinen noch unsicheren Händen sowie unter gewaltigem, aber durchaus klangvollem Geklapper ein fragiles Gebilde von graziler, kristalliner Struktur hervorwachsen sah – fast wie ein lebendiges Geschöpf.

 

Wie die Hauptheldin im Film, durch den übrigens die Schauspielerin Isabelle Huppert mit einem (Klöppel-)Schlag zu Weltruhm gelangte, ohne je eines dieser Geräte und der damit hervorzubringenden Gebilde in Händen zu halten, und die Gestalt des eigentlich titelgebenden Gemäldes des Jan Vermeer van Delft aus dem 17. Jahrhundert (ganz genau aus dem Jahr 1665) zeichnen eine Spitzenklöpplerin vor allem Eigenschaften wie Ruhe, Umsicht, Besonnenheit und Konzentration bis hin zur Welt- und Selbstvergessenheit aus, wie sie die völlige Hingabe an eine so anspruchsvolle Aufgabe erfordert.

 

Die Genremalerei des niederländischen Barocks weckte erstmals die Aufmerksamkeit des kunstsinnigen wohlhabenden Bürgers für die Schönheit schlichter Alltagsverrichtungen, die auch den Menschen adeln, der sie mit Geschick ausführt. Spitzenklöppeln war allerdings mehr als das: Die zarten weißen Kunstwerke, die sich zunächst im 15. Jahrhudert von Italien aus über ganz Europa ausbreiteten und dann im 17. Jahrhundert mit der Mode der schultergroßen Kragen und handbreiten Manschetten für Frauen ebenso wie für Männer die höchste Blüte ihrer Geschichte erlebten, waren damals notwendiger Broterwerb für arme Frauen, Nonnen oder auch Beginen, die dadurch unabhängig von Almosen sein konnten und somit stolz das Haupt erheben über das würdelose Elend einer Bettlerin.

 

In der Textilkunst der Gegenwart nehmen die verschiedenen traditionellen Spitzentechniken zwar nur noch einen geringen Raum ein und im Alltag hat die Industriespitze der Handarbeit längst den Rang abgelaufen, doch werden gerade im freien künstlerischen Klöppeln von Zeit zu Zeit im wahrsten Sinne Spitzenleistungen hervorgebracht: Meinen größten Eindruck von Klöppelkunst erhielt ich im tschechischen Pavillon auf der letzten Quadriennale des Kunsthandwerks in Erfurt, der raumhohe grafisch-filigrane Klöppelgebilde in kontrastreicher Spannung zu glatten, klaren, funkelnden Glasobjekten präsentierte. Wie in vielen anderen Ländern begründet sich übrigens Klöppelkunst in der damaligen Tschechoslowakei auf einem wichtigen Nebenerwerbszweig slowakischer Bergarbeiterfrauen.

 

Gerade beim Klöppeln empfindet man besonders die Notwendigkeit der Routine als Basis für Kreativität, denn nur so kann ich Gestaltungsspielräume überhaupt erst erkennen und mich in diesem Labyrinth der Verwicklungen frei von allen erlernten Programmen und allen Vorgaben und Vorlagen bewegen, ohne den Ariadnefaden aus der Hand zu verlieren – oder, was mindestens genauso schlimm ist, ihn am Ende mitsamt einem überzähligen Klöppel einsam und allein und damit nutzlos in der Hand zu behalten (wer je geklöppelt hat, weiß vielleicht, was ich meine, und kennt auch die unangenehme, fast demütigende Prozedur des rückwärtigen Entwirrens, wenn man sich auf dem Holzweg befunden hat …).

 

Aber den spezifischen Reiz dieser besonderen Ausstellung macht es auch aus, dass diese reizvollen Gefüge aus Fäden und Fantasie sich in Beziehung setzen zu anderen kreativen Textiltechniken, von denen sich die „Klöppelgruppe“ immer wieder inspirieren lässt:

Klöppelgruppe? Das klingt wie Krabbelgruppe – irgendwie hausfraulich-betulich – ja, und irgendwie so hat’s ja auch angefangen vor über 20 Jahren: mit Frauen, allerdings berufstätigen, die sowieso schon immer etwas mehr wollten als die drei K – in DDR-Variation des kleinbürgerlichen Frauenbildes Kirche-Küche-Kinder vielleicht Konsum-Küche-Kinder (Betonung auf dem „o“ – Konsúm mit Betonung auf dem „u“ kam erst später!).

Nein, sie wollten etwas Eigenes, Individuelles, wollten eine Herausforderung, wollten kreativ sein – wenn auch ohne den Traum des eigentlichen Künstlerdaseins.

 

Und das hatten sie nun davon: Kaum hatten sie sich – zusammengekommen auf Anregung von Ute Reißmann vom damaligen Stadtkabinett für Kulturarbeit – unter Anleitung der damals frischgebackenen Absolventin der Fachschule für angewandte Kunst Schneeberg Gerlinde Rusch, die sie bis heute mit Inspiration und Herausforderung begleitet, die Grundlagen für freies kreatives Klöppeln erarbeitet, ging es auch schon „in die vollen“:

Über erste Gestaltungsübungen, selbständige Entwürfe, Farb- und Arbeitsmuster bis zum fertigen Stück gewannen die Frauen allmählich eigene künstlerische Souveränität, so dass einige sogar eine mehrjährige Ausbildung zum Kursleiter für textiles Gestalten erfolgreich abschließen konnten – eine gute Basis für weitere Schritte ins experimentelle Arbeiten hinein, zum Beispiel zu Kombinationen mit anderen Materialien und Techniken, die u. a. auf Wochenendworkshops erlernt und erprobt wurden – wie Papierschöpfen, Seidenmalerei, Collage und Assemblage, Applikation und Patchwork, Batiken, Sticken, Knüpfen, Walken und Weben, aber auch das plastische und räumliche Arbeiten mit Papieren, Drähten und verschiedenen Naturmaterialien bis hin zu komplexen Aufgabe wie etwa dem Marionettenbau.

 

Die Erfolge kamen schon in den ersten Jahren durch zahlreiche Ausstellungen in Erfurt und Umgebung, doch ganz neue Möglichkeiten eröffneten sich nach 1989: Treffen mit einer Mainzer Klöppelgruppe, die regelmäßige alljährliche Teilnahme am internationalen Klöppelkongress und Bildungsreisen innerhalb, aber auch außerhalb Deutschlands. Die Messlatte wurde höher gelegt.

 

Den höchsten Anspruch an Fertigkeit und Fantasie zugleich stellen beispielsweise Themenvorgaben bei Wettbewerben und Workshops.

Themen wie „Masken“, „Gestein“, „Menschen“, „Schwarz und Weiß“, „Spitze im Quadrat“, „Bewegung“, „Mikroorganismen“, „Fischblase“, „Aufbruch“ und „Afrika“ beim internationalen Klöppelkongress, aber ebenso selbst gestellte Aufgaben wie „Streifen“, „Buchstaben“ und „Bäume“ oder Inspirationen aus Natur, Architektur, bildender Kunst und Design, z. B. aus Stilleben von Picasso, aus Steinstrukturen oder Porzellandekoren, manchmal aber auch einfach unter eigenen künstlerischen Aspekten verarbeitete Assoziationen zu Gesehenem und Erlebtem forderten die Entdeckung völlig neuer, manchmal regelrecht verblüffender Gestaltungslösungen mit originellen Formideen und raffinierten technischen Tricks heraus.

 

Je nach Individualität und davon geprägtem künstlerischen Konzept der Gestaltenden entstehen geometrisch gebaute, rasterartig geordnete Gefüge oder dem Fadenverlauf folgend organid fließende Gebilde – herb und streng oder zart und fragil, flächig bildhaft oder räumlich-skulptural, groß dimensioniert oder in Miniaturformaten, aus festem, grobem Leinen, feiner, weicher Baumwolle oder schimmernder, glatter Seide und sogar experimentierfreudig aus biegsam kraftvollem Draht, handgeschöpften Papieren oder anderen neuen Werkstoffen. Farbe wird entweder in klarem, auch inhaltlich begründetem Kontrast eingesetzt oder mit der Absicht, über eine malerisch sanfte oder kraftvoll heitere Tonwertskala einen bestimmten Ausdruck zu erreichen – etwa für eine romantisch gestimmte Landschaftsstudie einerseits oder die rustikale Atmosphäre einer naiv-fröhlichen Bildgeschichte anderseits.

 

Die über nunmehr 20 Jahre entstandenen Arbeiten der 18 an dieser Ausstellung beteiligten Frauen aus Arnstadt, Erfurt, Gehren, Geschwenda, Ilmenau, Kleinmölsen, Langewiesen und Meiningen zeigen nicht nur die oft erstaunlichen künstlerischen Entwicklungen der einzelnen Gruppenmitglieder, die es nicht nur rechtfertigen, einer großen Öffentlichkeit vorgestellt zu werden, sondern sicherlich auch impulsgebend sein könnten für viele, die bisher noch nicht den Mut hatten, ihre inneren Kräfte in eigene Kreativität umzusetzen.

 

Zugleich halfen und helfen dieses gemeinsame Arbeiten und Erleben, auch die Begegnungen und Erfolge – wie beispielsweise ein 6. Platz 1992, ein 3. Platz 2000 beim themengebundenen Wettbewerb des jeweiligen internationalen Klöppelkongresses – den Frauen aber auch, manche Schwierigkeiten im Umgang mit den Veränderungen der Zeit nach 1990 zu überwinden und berechtigt neues Selbstbewußtsein aufzubauen. Eine besondere Rolle für das sehr wichtige Zusammengehörigkeitsgefühl spielten vor 1989 auch Gemeinschaftsarbeiten wie „Historische Gebäude von Erfurt“ 1987 und „Hängende Gärten“ von 1989, die leider noch immer gesucht werden. Ob es noch einmal ein so großes gemeinsames Projekt geben wird, steht allerdings heute noch in den Sternen.

 

Aber der Faden reißt zum Glück nicht ab: Die nächsten Aufgaben halten die kleinen grauen Zellen bereits in Schwung und „querbeet“ wird es sicherlich in Zukunft auch weiterhin einen kreativen Ritt über das weite Feld der textilen Künste geben, nicht zuletzt dank der frischen und zugleich einfühlsamen Art der künstlerischen Chefin – sozusagen der „Art Direktorin“, wie man heute sagt, Gerlinde Rusch – aber natürlich ist es vor allem zu danken dem Durchstehvermögen, mit dem diese Frauen alle gemeinsam immer wieder einen hohen Anspruch an das eigene Leben stellen, sich aus eigener Kraft Erfolge schaffen und vor allem den Spaß, der zu einem erfüllten Leben gehört.

Den Faden sollte mancher aufgreifen, er führt aus so einigen Labyrinthen des Lebens.

Wie selten passen hier und für diese anregende Ausstellung die Gedanken des weisen alten Chinesen Lao Tse aus seinem Jahrtausende alten Werk Tao Te King:

 

Kann sich öffnen und schließen das Himmelstor ohne das Weibliche?

Und:

…denn alles Schwere der Welt ward aus Leichtem und alles Große entsteht aus Geringem. Nie müht sich darum der Weise um Großes, und so vermag er Großes zu schaffen.

Und:

Kenne das Männliche, aber bewahre das Weibliche.

Kenne das Licht, aber bewahre den Schatten.

Kenne das Hohe, aber bewahre das Niedrige.

 

So stellt der Weise sein Selbst zurück

Und ist den anderen voraus

Wahrt nicht sein Selbst

Und es bleibt ihm bewahrt

Denn ohne Eigensucht

Vollendet er das Eigene.

 

Und das Erfurter Ehrenjahr des mittelalterlichen Mystikers Meister Eckhart fügt neue Gedanken hinzu, die eine Spur in die Ewigkeit legen, der jegliches künstlerische Tun zu folgen vermag:

 

Recht in gleicher Weise heißen alle Werke der Menschen, die ihren Ursprung von innen nehmen.

Und:

Denn alles Geschaffene geht auf in Wandlung.

 

Das ist der Geist der Spitzenklöpplerin des Vermeer van Delft, das ist die Philosophie der zugleich fragilen und dauerhaften Textilkunst zwischen Vergehen und Bestehen – und ihnen lohnt es sich zu folgen.

 

Erfurt, 31.10.2003 | Dr. Jutta Lindemann