Spiegelungen

Laudation – Email-Symposium 2005

Der Abdruck meiner kleinsten Bewegung

bleibt in der seidenen Stille sichtbar;

unvernichtbar drückt die geringste Erregung

in den gespannten Vorhang der Ferne sich ein.

 

Wie vor einem Spiegel geschrieben scheint dieser Vers von Rainer Maria Rilke aus seinem Gedicht „Die Stille“.

 

Spiegel haben eine eigene Macht und Magie.

 

Ob bei Schneewittchen, der Schneekönigin oder Alice im Spiegelland – die gnadenlose, scheinbar zerstörerische Wahrheit des Spiegels aktiviert letztlich die Kräfte der Fantasie und der Liebe und bewirkt dadurch entscheidende Veränderungen zum Guten.

 

Und wie uns schon antike Mythen überliefern, lässt der Blick in die eigene gespiegelte Fratze auch das mörderischste Ungeheuer versteinern.

 

Spiegel haben die Fähigkeit, den Dingen, die sich in ihnen wiederfinden, durch eine neue Sicht auf sie – aus einem anderen Blickwinkel, in einem anderen Zusammenhang – ungeahnte Bedeutung zu verleihen. Wie im Spiel fügen sich die Dinge des Lebens, die Elemente der Welt neu zueinander und lassen uns neue Lebenseinsichten, neue Weltbilder gewinnen, wenn wir geduldig, aufmerksam und ohne Angst vor allem Folgenden hinsehen und das Gesehene in uns aufnehmen.

 

Der Mystiker Meister Eckhart schrieb über das spirituelle Wesen des Spiegels und der Spiegelung:

Ich nehme ein Becken mit Wasser und lege einen Spiegel hinein und setze es unter das Rad der Sonne, so wirft die Sonne ihren lichten Schein aus dem Rad und aus dem Boden der Sonne und vergeht doch nicht. Das Widerspiegeln des Spiegels in der Sonne ist in der Sonne. Ist Sonne, und sie ist doch, was sie ist. So ist es mit Gott. Gott ist mit seiner Natur, seinem Wesen und seiner Gottheit in der Seele, und er ist doch nicht die Seele. Das Widerspiegeln der Seele ist in Gott. Ist Gott, und sie ist doch, was sie ist. Gott wird da zu allen Kreaturen – Gottes Sprechen wird da zu Gott.

 

Das Thema lässt also viel erhoffen und fordert viel: Sich spiegeln ist immer ein Tanz auf glattem Eis mit doppeltem Boden. Man meint in die Tiefen der Welt zu sehen und trifft doch immer wieder nur auf sich selbst – aber vielleicht sind gerade das die Tiefen der Welt? Spieglein, Spieglein an der Wand …

 

Wie auch immer – das Arbeiten mit Email eröffnet auch dafür neue Möglichkeiten, allein schon durch die Konsistenz jener Farbflüssigkeit, die auf verschiedenste Art das Metall bedeckt, hart, glänzend, dicht, fest in ihrem endgültigen Zustand – kühl , glatt, blendend blank zurückblickend auf alle zumeist wohlbehalten überstandenen hitzigen Prozesse im Brennpunkt des Geschehens.

 

Und so scheint das Thema geradezu zwingend, denn während die Jugend der Welt im Zeitalter des WorldWideWeb durch den Begriff Email zunehmend in elektronische Verwirrung gestürzt wird und nur noch mit dem Hinweis auf die guten alten Emailletöpfe wieder auf die richtige Spur gebracht werden kann, ist man im englischen Sprachraum mit der Bezeichnung „Glas auf Metall“ längst auf derselben und damit in Spiegels Nähe – nicht nur rein optisch, sondern auch chemisch.

 

Doch so einfach kann man es sich natürlich nicht machen, wenn man Arbeiten in Email mit einem starken Willen zur Kunst verbindet – eine Intention, die schon viele Künstler unterschiedlicher Provenienz in den Werkstätten der Lowetscher Straße zusammengeführt hat, und noch dazu aus allen Himmelsrichtungen, so auch 2004 und in fast gleicher Zusammensetzung 2005:

Aus Tschechien ist Eva Kucerova zu begrüßen, aus Frankreich Agnieszka Lipp und Marie Thérèse Masias, aus Griechenland Natascha Papadimitriou, aus den Niederlanden Christine van der Ree und Annemarie Timmer, aus Großbritannien Elizabeth Turell, aus Österreich Ulrike Zehetbauer und last but not least aus Deutschland Arnold Bauer, Uta Feiler, Felix und Rolf Lindner, Barbara Lipp, Gisela Richter, Uta Stade und Gudrun Wiesmann.

 

Architektin und Fotografin, Malerin und Grafikerin stehen neben Metall- und Schmuck-Künstlern, und jeder bringt nicht nur seine spezifische Erfahrung ein, sondern profitiert auch vom besonderen Wissen und Können der anderen und oft auch von deren Impulsen, Ideen und Quellen wie beispielsweise Skizzen, Fotos, Collagen.

 

Größte gegenseitige Offenheit potenziert die Stärke der daraus erwachsenen Inspirationen.

 

Doch auch bereits das Thema selbst in seinem direkten Wortsinn zu interpretieren, führte zu unterschiedlichsten Lösungen – von Effekten durch Spiegelfolien, die mit den Illusionen um Bild und Gegenbild, Wirklichkeit und Abbild und der Verkehrung von Situationen in ihr Gegenteil spielen – bis zum Gegeneinander und Gegenüber komplementär miteinander korrespondierender Bildanalogien etwa im Sinne einer nicht nur formalen Janusköpfigkeit.

 

Doch vor allem spiegeln sich im Kontext des gesamten Symposiums gegensätzliche Sichten, die einander zu einem Gesamtbild dieses Kunstgenres ergänzen: hier die materialsinnliche malerische Auffassung mit pastos fließenden dichten Farbmassen, in körniger Transparenz immer und immer übereinander gesprühten Schichten oder aquarellhaft zart modulierten Tonwertschleiern, dort das konsequente Hell-Dunkel von grafisch aus luzidem Weiß geschabten, gekämmten, gekratzten, gebürsteten oder gewischten Spuren des darunter liegenden schwarzen Fonds – Emailvarianten von Holzschnitt, Schabblatt, Radierung – hier informelle Strukturgefüge im Fluss frei gewachsener Metamorphosen, dort konstruktiv gebaute Kompositionen von kristalliner Klarheit, hier bildhafte Figuration, dort zeichenhafte Symbolik – immer wieder ein Gegeneinander, das im Nebeneinander zum Miteinander wird.

 

In die Korrespondenzen, Konkurrenzen, Kongruenzen einer Spiegelpartnerschaft begeben sich auch die zweite und die dritte Dimension, wenn die eigentlich traditionellen Flächen des Email aufgebrochen werden zu skulpturalen Montagen, gefügt werden zu objekthaften Gefäßformen mit Raumpräsenz oder zu raumgreifenden Installationen, aber auch durch die raumbedingte Transparenz des erst vom Gegenlicht legitimierten Fensteremails.

 

Doch die Bipolarität dieser Spiegelprozesse geht über die experimetelle Auseinandersetzung mit Fläche und Raum hinaus sogar in die nächste Dimension, die der Zeit:

Im Spannungsfeld des Zeitraums zwischen den beiden einander spiegelnden Symposien 2004 und 2005 sind durch die fast deckungsgleiche personelle Besetzung ganz ungewöhnliche Kräfte in neu gewachsenen gegenseitigen Beziehungen entstanden.

 

So arbeiteten viele der beteiligten Künstlerinnen nicht nur über das Jahr hinweg an den Projekten aus 2004 weiter, sondern standen in engem geistigem und sogar materiellem Austausch mit Blick auf das Symposium 2005: Man stellte einander gewünschte besondere Werkstoffe zur Verfügung, und in England wurden zwecks Nutzung einer dort an der Universität selbst entwickelten Email-Abziehbild-Technik Spezialfolien mit den zeichnerischen Entwürfen oder Texten verschiedener Mitwirkender versehen, um hier in Erfurt daran weiterzuarbeiten.

 

Und gemeinsam wurde natürlich wie schon im vergangenen Jahr über ein Woche lang geackert, dass der Ofen nicht aus dem Glühen herauskam! Da ist eine ganz besondere und sehr inspirierende Atmosphäre des Miteinanders entstanden, die sofort auf jeden, der hinzukommt, überspringt.

(Und das hat nicht nur, aber auch mit den schon legendären täglichen gemeinsamen Arbeitsessen ganz im Sinne der klassich antiken Symposien und quer durch die europäische Küche zu tun – zu besonderen Anlässen natürlich aus künstlerisch gestaltetem Emailgeschirr …!)

 

Wille und Wesen des einzelnen spiegeln sich so im Ganzen und fügen sich über das rein Künstlerische hinaus zu einem beeindruckenden Gesamtbild von verantwortungsvoller Gemeinschaftlichkeit, wie es durchaus nicht immer jedem Symposium gelingt!

 

So kann es kaum überraschen, dass neue gemeinsame Projekte der Gruppe schon hier vor Ort in Vorbereitung sind: eine Ausstellung in London und vielleicht auch eine in den Niederlanden.

 

Ob und wie es in Erfurt weitergehen kann – das steht auf einem anderen Blatt und hat vor allem mit regionaler und kommunaler Kulturpolitik zu tun, denen alle in den gut ausgebuchten Erfurter Künstlerwerkstätten Tätigen immer wieder die eindrucksvollen Resultate ihrer Arbeit, aber auch ihre Wünsche nach Erhalt dieser Arbeits- und Ausstellungsmöglichkeiten wie einen Spiegel vor Augen halten.

 

Der Spiegel ist ein äußerst zweideutiges Symbol. Einerseits gilt er als Zeichen der Eitelkeit und der Wollust. Andererseits ist er aber auch ein Symbol für Selbsterkenntnis, Klugheit und Wahrheit. Nach altem antikem, aber auch mitteleuropäischem Glauben ist darin unsere Seele gebannt, und die Spiegelung dient der übersinnlichen Erkenntnis der Welt. Bei E. T. A. Hoffmann geht mit dem Verkauf des Spiegelbildes an den Teufel auch die Seele flöten, und Andersens Schneekönigin verwandelt durch einen Spiegelsplitter das Wesen eines Jungen in sein Gegenteil. Noch im Mittelalter sollen dagegen jüdische Gelehrte geglaubt haben, dass Spiegel beim Hineinsehen die Kraft der Augen wiedergeben und sie auf diese Weise stärkten. Gelehrte hätten deshalb während des Schreibens einen Spiegel vor sich hingestellt. Und für den Buddhismus gar ist die gesamte Existenz des Menschen nur eine Reflexion.

 

Aber wir nehmen es handfester: Spieglein, Spieglein an der Wand – auch der berühmt-berüchtigte Zauberspiegel sagte gnadenlos die Wahrheit und brachte damit so einiges in Bewegung. Doch im Märchen ging es nach mancherlei Schwierigkeiten dank der Hilfe vieler Gutgesinnter am Ende gut aus.

 

Möge auch für die Emailsymposien, die Künstlerwerkstätten und noch so manchen kulturellen Ort das Märchen wahr werden – denn glühende Schuhe wollen wir doch keinem wünschen müssen!

(Aber im Notfall steht der Emailofen bereit!)

 

Erfurt, 23.04.2005 | Dr. Jutta Lindemann