Nicht nur im legenden- und märchenreichen Thüringen, sondern überall auf der Welt und seit Menschengedenken werden als wichtige Quellen der Kunst immer auch Mythen identifiziert, die oft weit über die Überlieferungen der Region hinaus für generelle menschliche Wesenheiten stehen. Beliebt sind dabei natürlich Heldenmythen, deren Protagonisten gewöhnlich Männer sind. Aber es geht auch anders: Aus dem Mythos von der ewigen und zugleich stetig sich wandelnden Mutter Erde hervorgegangen ist vermutlich auch der Mythos der Wolfsfrau, des Archetypus der Wilden Frau, die die uns allen innewohnende instinktive Kraft der Wilden Freiheit verkörpert und diese Kraft aus ihrer Nähe zu Erde und Wasser ebenso schöpft wie ihre Inspirationen aus Himmel, Feuer und Wind.
Und vielleicht können uns daher die 10 allgemeinen Verhaltensregeln für Wolfsfrauen dabei nützlich sein, immer den impulsgebenden und kraftspendenden Boden unter den Füßen zu behalten und doch zugleich auch die Nase im Wind, der das Neue herbeiträgt und das Verlorene verweht.
(„Am besten fängt man mit Regel Nummer 10 an“, empfiehlt die Autorin des Buches „Die Wolfsfrau“, Psychologin Clarissa Estés, „wenn man gerade schwer zu kämpfen hat“):
1. Essen
2. Ruhen
3. Spielerisch arbeiten und herumstreunen
4. Loyal sein
5. Kinder großziehen
6. Im Mondlicht tanzen
7. Ohren haarfein einstimmen
8. Knochen ausgraben
9. Lieben und sich lieben lassen
10. Oft und kräftig aufheulen.
Offenkundig eine solche Wolfsfrau ist Marion Walther aus Mühlhausen, rein äußerlich ganz harmlos als Künstlerin getarnt. Aber das Miteinander von Leidenschaft und Stolz, kompromisslosem Kampfgeist und sensiblem Gespür für die urtümlich sinnlichen Kräfte der Erde entlarven sie beim ersten oder spätestens zweiten Blick auf ihr Oeuvre, das Keramik und Grafik durch eine gemeinsame Sprache miteinander verbindet, die entscheidend von der Linie getragen wird, die der Wolfsfrauennatur folgend sich sanft schleichend und doch notfalls auch mit wilden Sprüngen ihren Weg in die Welt bahnt und auch uns auf ihre Spur bringt.
Nichts als die freie Linie – egal, ob mit Stift, Feder, Pinsel auf Papier gezogen oder mit vielerlei anderem Werkzeug in vielerlei andere Materialien gegraben, ob einen plastischen Korpus umgleitend oder einen zweidimensionalen Bildraum im Sturm des energisch breiten Einzelstrichs oder im zierlichen Trippelschritt eines zarten Zeichengewimmels erobernd – ist besser als Psychogramm geeignet, denn die spontan von Hirn und Herz gleichermaßen gesteuerte Handbewegung transformiert am direktesten eine innere Bewegung in eine äußere – vergleichbar mit der Gestik, die vor allem bei großer Erregung unsere Rede begleitet, oder auch mit dem Tanz, den große Freude oder der magische Rhythmus von Musik manchmal völlig unerwartet aus uns hervorbrechen lässt.
Gestreckt, gestrafft, gebrochen, gleitend, fließend, fliehend – Linien zeigen und haben Charakter – den ihres Schöpfers, im Ausdruck genauso kontinuierlich oder wechselvoll wie seine Metamorphosen und Seelensprünge, die sie seismographisch verraten.
Linien sind die ursprünglichste Handschrift des Inneren im wahrsten Sinn des Wortes, sind Fingerabdruck der Seele.
Linien ziehen und überwinden zugleich die Grenzen zwischen Form und Raum, zwischen der kalten Wirklichkeit einer noch leeren Fläche und der frei herausfabulierten wilden Welt der Fantasie, wie sie nur dem Träumen entspringt – im Hellen wie im Dunklen, bei Tag und bei Nacht – Grenzen, die zu sprengen sie uns ermutigen, um modellhaft den Aufstand des Über-sich-hinaus-Wachsens zu proben.
Linien lassen aus der Bildfläche illusorisch den Bildraum entstehen, den wir bis tief in die Unendlichkeit mit unseren Traumgeburten füllen.
Linien begrenzen und charakterisieren zugleich aber auch als Konturen den Spielraum der entstandenen Formmodulationen – Bildzeichen für reale oder mystisch-mythische Mensch- oder Tierwesen, für pur und assoziativ Strukturelles oder bedeutungsvoll Gegenständliches.
Linien graben in die heile Welt der unberührten Bildfläche wie auch in die Haut der klaren, glatten Keramikform tiefe Schrunden als unvergängliche Zeitspuren im Rückblick auf Durchlebtes, das sie durch Beschreiben zu bewältigen helfen.
Und – last but not least: Linien als ursprünglichstes Gestaltungsmittel durchziehen vom ersten Moment an, in dem man entdeckt, dass die Marmelade oder Schokolade am Finger auf bevorzugt weißen Tischdecken eine Aufsehen erregende Spur hinterläßt, das Leben eines jeden Menschen.
Den Linien auf der Spur durchwandern wir Marion Walthers Welt.
Im Skulpturalen der keramischen Objekte und Gefäße konfigurieren sich im Moment der Kunstschöpfung erstarrte Phasen endloser Metamorphosen alles Lebenden oft als klar umrissene Kugelform – einem jahrtausendealten Symbol behütender Mütterlichkeit – Schoß, Knospe, Frucht, Ei – eine Urform, in zuweilen rauher Abwehr nach außen, mit hart gebrannter Haut, doch andererseits nach innen lebensvoll unter dem weich schmelzenden, schützend dichten Fluss der Glasuren und Engoben.
Die Kugel umschließt und verkörpert zugleich die gesamte Welt, begehbar wie ein Labyrinth, das jedoch zum Glück dann, wenn es einen Eingang gibt, immer auch einen Ausweg bereithält, vielleicht mit einem die Insassen schützend umschließenden Boot als Fluchtfahrzeug, begleitet von den behütenden Blicken der Wächterinnen turmhoch und souverän über dem Geschehen.
Und da sind es wieder Linien, die die energischen Profile mythischer Wesenheiten markant formulieren, wilder Wächterinnen im Wind oder gravitätischer Göttinnen mit großen Gesäßen.
Linien in immer neuen Überlagerungen, verdichtet zu Vernetzungen, zu schicksalhaften Verstrickungen, überziehen mit Haut und Haar mutwillig gereckte Köpfe und Körper als Spuren gelebten Lebens wie nach außen gedrungene kaum vernarbte Wunden der Seele.
Gefäß, Gerät, Schmuck, Waffe, Kult, Zeichen und oft alles zugleich – zweckdienliche und ebenso symbolträchtige Formen, wie sie so nur aus der menschlichen Hand hervorgehen und deren schöpfende Bewegung sicht- und spürbar auf Dauer in sich aufbewahren – Kugel, Kumme, Schale, Stele, Schiff, Schädel, Leib – treten im Turnier der Kontraste gegeneinander an: massig, dicht, geballt, in sich ruhend und versunken gegen grafisch schweifend, kalligraphisch fließend, keck aufgereckt und nicht selten speerspitz oder messerscharf, kraftvoll und kampfbereit.
Marion Walthers Schaffen über die letzten Jahre hinweg offenbart eine Persönlichkeit, die sich mit ihren Geschöpfen gern mitten hinein stellt in die Weltbewegung und doch inmitten der Auseinandersetzung immer auch über Einhalt und Einkehr den Gleichklang mit der Welt sucht, wie er in Vollendung jedoch wohl niemals zu finden sein wird.
Kunst schlägt zwar immer aufs neue Brücken dorthin, doch das ersehnte Ufer, an dem alle Fragen sich lösen, kann niemals erreicht werden.
Formen und Farben, Rhythmen und Texturen dringen unter den Händen der Künstlerin aus ihrem Inneren hervor und achtungheischend mitten hinein in unsere Lebensräume. Sie verschaffen sich nachdrücklich und nachhaltig den ihnen angemessenen Platz darin und treten in Korrespondenzen, Konkurrenzen, Kongruenzen zueinander und zu uns, sprechen zu uns vom Hiersein und Fortwollen, vom Aufbäumen und Müdewerden, vom Wurzelnschlagen und Segelsetzen im Steigen und Stürzen zwischen Himmel und Erde – und wohl auch bis zu den tiefsten Gründen der Hölle, stets und unstet getrieben zwischen Feuer und Wasser.
Daraus zwingend entstehende Veränderungen zeigten sich zunächst vorrangig im Farbkonzept der Keramik, das, an die natürlichen Nuancen der glasurbildenden Mineralien und Metalle gebunden, doch kraftvoller, kontrastreicher als bisher sich aus der tonigen Erdigkeit der Braunskalen löste und mit den lichten, klaren, kühlen Weiß-, Blau- und Grün-Tönen glänzender Glasuren zum einen und dem saftig warmen Inkarnat matter Engoben zum anderen mehr und mehr gegen die aus Freibrand-Feuerspuren geborenen schwarzen Schatten des Höllenschlunds rebelliert.
Und im lasierend transluziden Auftrag oder Einrieb der Farben steigert sich ganz nebenbei auch noch die Plastizität der rissigen keramischen Häute.
Doch der nächste Schritt entwickelte sich ebenso konsequent aus der Dominanz der Linie: In den letzten Jahre hat die Grafik, vor allem in Gestalt der lavierten Zeichnung, neue Schwerpunkte in das Oeuvre von Marion Walther gesetzt. Und ganz folgerichtig nach dem jahrelangen Spiel mit den energetischen Kräften der Linearität in verschiedenen Medien und Dimensionen zwischen Papier und Keramik, Stein, Holz und Leder, Druckfarbe, Engobe und Glasur tritt auch noch die Beschäftigung mit fließend geschriebener Schrift und ihren besonderen grafischen Aussagewerten, aber auch ihrem inhaltlichen Kontext hinzu.
So entstanden Serien zum expressionistischen Dichter Wilhelm Klemm und seinem 1920 entstandenen Band „Traumschutt“ oder zu Marie Luise Kaschnitz‘ „Frauenfunk“, aber auch eine Reihe Kalenderblattübermalungen, die tradiert harmonische, vom Menschen vorbildhaft geschaffene Kulturlandschaften durch Zerstörung und Besetzung neu interpretieren, ironisch hinterfragen und ungewöhnlich bevölkern, aber teilweise auch mit eigenen Texten, etwa zur aktuellen Situation der Kultur, in eine andere Dimension der Auseinandersetzung katapultieren: Die Wucht kulturhistorischer Monumente wie der Chinesischen Mauer oder des Roten Platzes etwa zerbröselt ins fassbar Menschliche und Vergängliche.
Porträthafte Figurationen, aus einem Fond körnig-transparent gewalzter Strukturflächen aus Acryl mit einer Anmutung von Auflösung durch die klare Lineatur von Feder, Pinsel und Stift herausgearbeitet, beziehen durch Mimik, Gestik und Körpersprache Position, zeigen Haltung – zuweilen zwar auch ambivalent in der Deutung, zumeist jedoch eindeutig, vor allem in den klaren, straffen Bleistiftzeichnungen, als Aufbruch oder Rückzug, Behauptung oder Verweigerung nachvollziehbar – Linien treffen in letzter Konsequenz die entscheidende Aussage. Und selbst in den menschenleeren großformatigen Stadtstrukturen bändigt die ordnende Linie die Dynamik der Farbflächen nach menschlichem Maß.
Kunst kann helfen, dass wir die ständigen Metamorphosen in Raum und Zeit, behutsame oder gewaltsame Veränderungen bis zur Zerstörung von bereits Entstandenem, vielleicht mühevoll Erarbeitetem, um dessen Überreste als Rohstoff für die neue Idee, das neue Geschöpf zu verwenden, an und in uns selbst entdecken und modellhaft, spielerisch, doch auch bewusst gestalten, um diese Prozesse zeitweilig sichtbar und nacherlebbar werden zu lassen – Evolution und Revolution als zwei Seiten derselben Medaille. So können wir vielleicht lernen, mit diesen Wandlungen wie den damit verbundenen, doch oft auch im wahrsten Sinne heilsamen Verletzungen und Verlusten zu leben, sie zu bewältigen und sie vielleicht sogar uns zunutze zu machen, was auch bedeutet, die richtige Balance zwischen Verlust und Gewinn, die Lebensbalance, zu finden.
Und möglicherweise ist es kein Zufall, gerade am heutigen 11. September davon zu sprechen, dass wir für all das mehr noch als Wächter eigentlich Wächterinnen brauchten, die – zärtlich und zornig zugleich und den Kopf voller Visionen und Träume zwischen den Wolken – doch auch täglich ihre Haut zu Markte tragen, die Füße aber fest im Boden vergraben haben, um immer die Erde zwischen den Zehen zu spüren, aus der wir gekommen sind und die zu hüten unser Auftrag ist, bis wir wieder in sie eingehen.
Geben wir daher zum Ende einer anderen Wolfsfrau das Wort:
Marie Luise Kaschnitz
Frauenfunk
Eines Tages sprech ich im Rundfunk
Gegen Morgen wenn niemand mehr zuhört
Meine gewissen Rezepte
Gießt Milch ins Telefon
Laßt Katzen hecken
In der Geschirrspülmaschine
Zerstampft die Uhren im Waschtrog
Tretet aus Euren Schuhen
Würzt den Pfirsich mit Paprika
Und das Beinfleisch mit Honig
Lehrt eure Kinder das Füchsinneneinmaleins
Dreht die Blätter im Garten auf ihre Silberseite
Beredet euch mit dem Kauz
Wenn es Sommer wird zieht euren Pelz an
Trefft die aus den Bergen kommen
Die Dudelsackpfeifer
Tretet aus Euren Schuhen
Seid nicht so sicher
Daß es Abend wird
Nicht so sicher
Daß Gott euch liebt.
Erfurt, 11.09.2008 | Dr. Jutta Lindemann