Sollte noch irgendein jüngerer Bürger Europas dank der ohnehin zweifelhaften Gnade seiner späten Geburt bisher wirklich nicht gewusst haben, was ein Schlitten ist (und solche Fälle halte ich in Vielzahl für ziemlich wahrscheinlich) – der Super-Winter 2009/2010 hat mit diesem Defizit mit Sicherheit gründlich aufgeräumt:
Schlitten waren, wie sommers gelegentlich Ventilatoren, in allen einschlägigen Geschäften wochenlang ausverkauft!
Und so hat uns die Natur wieder einmal gezeigt, dass es unvergängliche Ur-Kräfte gibt und – erfunden von Ur-Menschen vor Ur-Zeiten und in Ur-Formen gebracht – ebenso unvergängliche Mittel dagegen.
Vermutlich gab es vor Tausenden von Jahren mal ebenso einen Winter wie den diesjährigen, und irgendjemand in Lappland oder so schleppte schnaufend ein leckeres Rentier durch den kniehohen Schnee, bis er über einen Haufen alter Äste stolperte und sich am Kopf stieß, denn diesen Anstoß benötigte er für seine Jahrtausend-Idee …
Oder war es doch ganz anders?
Auf dem Weg von der simplen Hörner-Holzrutsche bis zum nur so genannten Renommierschlitten der Marke Porsche kann man durch die Menschheitsgeschichte schlittern und dabei auch ganz schön ausrutschen. Diverse Schlittenmuseen deutschlandweit machen mit der zweckdienlichen „Käsehitsche“ ebenso wie der filmreif repräsentativen russischen Troika neugierig auf das Winterleben unserer Vorfahren in Ost und West, in Tundra, Taiga oder im Thüringer Wald.
Wikipedia weiß es natürlich wieder besser:
„Der Schlitten entwickelt sich aus der Schleife, die wie der Travois ohne Kufen über den Boden gezogen wurden. …
Die Grundkonstruktion (des Travois) besteht aus zwei langen Stangen und einem Querholz, die zu einem gleichschenkligen Dreieck verbunden sind. Das spitze Ende der Vorrichtung wird getragen und zeigt nach vorne. Das breite Ende mit der zwischen die Langholme gebunden Stange wurde über den Boden geschleift.
Der Travois (vom französischen travail, einem Bügel zum Zurückhalten von Pferden) konnte entweder beladen werden, indem die Transportgegenstände auf dem Rahmen gestapelt und festgebunden wurden, oder indem Stoff oder Leder über der Stangenkonstruktion ausgebreitet wurde, um kleinteilige Ladung aufzunehmen.
Obwohl der Travois als ein primitives Transportmittel angesehen wird, hat er in weglosen Gebieten mit weicher Erde gegenüber Radfahrzeugen Vorteile.“
Und nachgewiesen ist das zumindest in Europa seit dem Neolithikum, also bis zu 11.000 Jahre vor der Zeitrechnung.
Aber das gab es auf der ganzen Welt, auch in schneelosen Gegenden, hervorgegangen aus den ersten Pflügen – so gibt es Fundstücke sogar aus Südafrika!
Mesopotamische Darstellungen ca. 3.500 vor Christi zeigen Dreschschlitten; den alten Ägyptern traut man Schlittentransporte für Baustellen zu. Moderne Wettkampfschlitten dagegen werden auf die ersten lenkbaren Schlitten aus dem Jahre 1870 zurückgeführt , die lt. Internet für britische Hotelgäste im schweizerischen St. Moritz als Zeitvertreib erfunden worden sein sollen.
Und was es da inzwischen allen gibt – hier ein Auswahl in alphabethischer Reihenfolge: Aeroschlitten (Propellerschlitten), Bob, Bretterschlitten, Dreschschlitten, Eisschlitten, Hornschlitten, ursprünglich ein Arbeitsgerät von Bergbauern zum Transportieren von Heu oder Holz, Hundeschlitten (auch Grönländerschlitten oder Nansenschlitten), Karussellschlitten, Korbschlitten, Kreeken (traditionelle Kastenschlitten aus Hamburg-Blankenese), Pferdeschlitten, Postschlitten, Prunkschlitten, Rentierschlitten (auch Ackja oder Pulka), Rodelschlitten, Segelschlitten (Eisyacht), Stuhlschlitten (auf dem Eis verwendet), Tretschlitten (Spark, Kicksled), ein besonders in Skandinavien verbreitetes Sport- und Fortbewegungsgerät, Troika (auch als Wagen), Skeleton, ein spezieller Rodelschlitten beim Skeleton, Toboggan, ein kufenloser Schlitten der nordamerikanischen Indianer der Subarktis, Ziehschlitten, die Rodel, historisches Transportgerät der Alpen für Heu und Holz …
Doch grau ist alle Theorie! Blicken wir einer neuen Species ins Antlitz: dem Kunst-Schlitten! Hiermit wird ein neues Kapitel der facettenreichen Schlittengeschichte aufgeschlagen – von Dorothée Aschoff.
Und die Künstlerin geht bewusst den langen Weg der Entwicklung wieder zurück bis an die Ursprünge, um uns zum Wesen dieses Gegenstandes zu führen.
Dabei kommt ihr zugute, dass sie schon seit ihrer Ausbildung das malerische immer eng mit dem skulpturale Denken und Formulieren verflochten hat, aber ebenso, dass sie seit einiger Zeit mit dieser Methode einfache, durch lange Phasen kultureller Entwicklung vom Gebrauch durch den Menschen, weil zu seinem Nutzen und Schutz aus seiner Körperhaftigkeit heraus geformte archaisch anmutende Gegenstände bildnerisch bis hin zu ihrer absoluten, aber auch ambivalenten Abstraktion erforscht hat – so Boote, Mäntel und Sättel als tektonisch reduzierte Hüllen oder Verbindungselemente zwischen Mensch und Tier.
Dabei ist ihr die direkte Sinnlichkeit des reinen Materials Ölfarbe auf Leinwand, das mittels immer wieder miteinander verarbeiteter Schichten bis an seine technischen Grenzen als durch die Hände plastisch formbarer Körper behandelt wird, eine Brücke aus der Bildfläche in den Raum hinein zum skulpturalen Objekt, das ebenfalls nur aus Papierbahnen und Leim direkt aus der Bewegung der Hände entsteht.
Im Sinne dieser Reinheit darf auch das Weiß farblich nur sparsam moduliert werden – in seine strahlende Lichtheit eingebettet steht oder besser bewegt sich das Bildobjekt im Raum.
Denn Bewegung im Raum und aus dem Raum heraus bestimmt existentiell die Komposition der Schlittenbilder und suggeriert die Formsprache der auch an Skelette von Urwesen erinnernden Schlittenskulpturen. Rasant rauschen die Kufen durch das scheinbar unendliche Weiß, das sich in den Wandflächen fortsetzt, und die Installation von über 50 Einzelstudien – Miniaturleinwände in Mischtechniken aus Faser-, Kohle-, Kreidestiften, mit Tusche, Ölfarbe, gearbeitet mit Finger, Pinsel, Messer, Spachtel – steigert sich so zum unaufhörlichen Gleiten über die gesamte Wand hinweg. Doch es ist immer eine gelenkte Fahrt, die Zügel fest in der Hand.
Gleitend in Ungewisse, im Wechsel zwischen energischem Steigen und scheinbar erlösendem Sich-Hingeben an die Wehrlosigkeit der Abfahrt durch das weiße, mystische Element hinab in ungekannte Tiefen, gewinnt auch Thomas Manns Hans Castorp im Schlüssel-Kapitel „Schnee“ des Jahrhundert-Romans „Der Zauberberg“ den entscheidenden Lebenswillen, um sich aus der Sympathie für den Tod zu befreien und das Dahingleiten durch die Krankheit in den Abgrund des ewigen Schlafes aufzuhalten.
So betrachtet, vermittelt die Schlittenwelt der Dorothée Aschoff etwas von der Fähigkeit des Menschen, der Natur ebenso wie der eigenen Schwäche die Kraft seiner Phantasie und seiner Hände entgegenzusetzen.
Mitten im Schleier des Schneesturms, kurz bevor er dem Leben entgleitet, hat Castorp einen Traum von einer sonnenwarmen arkadischen Landschaft, aus dem ihn eine mörderische Schreckensvision in die Wirklichkeit zurückreißt.
Er weiß nun (wenn auch diese Erkenntnis leider bald in Vergessenheit gerät):
„Der Mensch ist Herr der Gegensätze, sie sind durch ihn, und also ist er vornehmer als sie. Vornehmer als der Tod, zu vornehm für diesen – das ist die Freiheit seines Kopfes. … Die Liebe steht dem Tod entgegen … Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken.“
Und der Schlitten – als zeichenhafte Kunstform auf seine Kernbedeutung zurückgenommen – wird zum zeitübergreifenden ästhetischen Symbol für die hier manifestierte produktive Einheit von Hingabe und Selbstbestimmung.
Erfurt, 02.04.2010 | Dr. Jutta Lindemann