Karla Gänssler & Heike Stephan

Laudatio zur Vernissage am 13.01.2007 im Waidspeicher Krönbacken

„Back to the roots“ und „Coming home“ stand als Motto über einigen Ausstellungen des Vorjahres und hätte auch noch zu einigen anderen Expositionen der letzten Jahre in diesem Haus gepasst. Im Jahr 2007 wird schon mit den Auftaktexpositionen diese Konzeptlinie weitergeführt – und damit, wie ich hoffe, eine unendliche Geschichte.

 
Karla Gänßler und Heike Stephan reihen sich mit ihren Präsentationen auf ihre ganz individuelle Weise ein in die große Zahl temporärer Heimkehrer, die das traditionsreiche Gemäuer des Kulturhofs Krönbacken im Herzen ihrer Vater- (oder wahlweise auch Mutter-)Stadt gewählt haben, um sich nach langen Jahren der Abwesenheit in der alten Heimat vorzustellen. Dabei geht es nicht ausschließlich um den Ort der Geburt und Kindheit, sondern auch um den Ausgangspunkt erster künstlerische Inspirationen durch Lehre, Studium, Persönlichkeiten in unserer Stadt und Region, die ihren Teil zum heutigen Status der Künstlerinnen beitrugen.

 
Und wie wir entdecken werden, verbinden beide neben ihrer thüringischen Herkunft, den verschiedenen Berührungspunkten zu Erfurt und dem Studium der Kunsterziehung noch manche tiefere Fäden miteinander, die sie durch das Aufeinandertreffen unter diesem Dach entdecken konnten.

 

Karla Gänssler, 1954 im thüringischen Rudolstadt geboren, arbeitete nach dem Studium der Kunsterziehung und Geschichte an der Universität Leipzig zunächst dortselbst am Museum für Bildende Künste, bevor sie nach einem Facharbeiterabschluss als Keramtechniker, einem Studium Bildhauerei/Keramik und anschließener Aspirantur an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee in Berlin als freischaffende Bildhauerin, Keramikerin und Grafikerin und seit 1998 mit eigenem Atelier in Friedenfelde/Uckermark ansässig wurde, daneben jedoch auch seit 1991 zahlreiche Lehraufträge in Berlin und Potsdam wahrnimmt.

 
Mit Erfurt, das sie daher oft besucht, verbinden sie heute ihre hier ansässigen Eltern. Das breit gefächerte Ausbildungsprofil und die künstlerische Neugier nach immer neuen Ausdruckmöglichkeiten haben zu einem reichen, in der individuellen Handschrift fein differenzierten Ouevre geführt, das von einer empfindsamen und doch lustvollen Sinnlichkeit geprägt ist – inspiriert von der Eigenwertigkeit so unterschiedlicher und doch durch die spezifische Haltung dieser Kunst spannungsreich miteinander verbundenen Stoffe, das allein schon die Aufzählung Neugier und Spürlust weckt: Gestein vom mehrfarbig geäderten italienischen Marmor über Travertin bis zum sächsischen Sandstein, Metalle vom blattvergoldeten Bronzeguß über gezielt gerostete Eisenplatten bis hin zu feinen und groben Drahtnetzen, Splitterholzbahnen unterschiedlichster Provenienz und transluzid schimmernde Glaselemente, Textilien von zartestem Mull über farbgetränkte Wischgaze mit der Anmutung spanischer Spitzenmantillen bis zu fasrigen Vliesen und last but not least Papiere, Papiere, Papiere, zumeist selbst geschöpft, intarsiert, von Sieben oder Steinen bedruckt, bemalt, beschrieben – durch Nachbearbeitungen von Hand immer Unikate, wenn auch zuweilen seriell aufgefasst wie der durch Musik inspirierte „Vierklang“.

 
Das freie Schöpfen von Papieren ermöglicht das Verschmelzen und Überlagern unterschiedlicher Schichten und Materialien so nachvollziehbar, dass der Vorgang zum eigenen Ausdruckswert wird und die Intentionen der Künstlerin sinnlich eindringlich transportiert, Gefundenes zu bewahren und scheinbar Wertloses in seiner unverwechselbaren Kostbarkeit sichtbar werden zu lassen – auch im bewußten Gegen- und Nebeneinander unterschiedlichster Anmutungen.

 
Und auch die technologisch bedingten unwillkürlichen Spuren von Arbeitsprozessen beim Drucken und Gießen werden für wert befunden, als eigenwillige Gestaltungselemente die endgültige Gestalt zahlreicher Arbeiten entscheidend zu prägen.

 
Dabei verschmilzt die Künstlerin Fläche und Raum durch reliefhafte Auffassungen in den vielschichtigen und differenzierten, behutsam aufgebauten Flächenarbeiten einerseits und die grafische Behandlung der zeichenhaft gestrafften fragilen und doch eindeutig raumgreifenden Skulpturen andererseits – zusammengeführt in einem in sich geschlossenen subtil-naturhaften Farbkonzept.

 
Als dominantes Gestaltungsprinzip steigert zudem sowohl in den flächenhaften als auch in den skulpturalen Arbeiten der Kontrast von Linie zu Fläche die Sensibilität für beides – für die Möglichkeiten des Malerischen wie auch des Grafischen, die einander herausfordern und ergänzen.

 
Doch die Botschaften gehen tiefer: Da ist die konsequente Betonung der Vertikalen – Symbol für eine aufrechte Haltung, die Rückgrat zeigt. Da sind Titel, die mythologische Bezugsfelder auf gegenwärtige Situationen übertragen, wie die Köpfe von Siegesgöttin und Kriegsheld, deren Konfrontation auf dem Schafott endet.

 
Und da sind Texte wie die des 1977 verstorbenen und den Surrealisten nahestehenden französischen Lyrikers Jacques Prévert, Autor u. a. des weltbekannten Chansons „Le feuilles mortes“, dessen mit brillanten Wortspielen durchsetzte Texte einerseits von Melancholie beherrscht werden, andererseits Ausdruck einer engagierten, zuweilen sogar zum Anarchismus neigenden Sozialkritik sind, und die der im vergangenen Jahr gestorbenen jüdisch-polnischen Dichterin Rajzel Zychlinski, die in ihren meist in der fast verlorenen jiddischen Sprache verfassten Liedern und Versen den Verlust ihrer Familie durch den Holocaust, dem sie knapp entging, zu verarbeiten versucht.

 
Es geht also immer um das Leben in all seine Facetten – banal und majestätisch, düster und leuchtend, kostbar und billig, derb und fragil in ein und demselben Moment, mit kraftvoller Mitte und brüchigen Grenzen zwischen Licht und Nacht, Himmel und Hölle, Leben und Sterben – inclusive der Möglichkeit der ständigen Veränderung alles Bestehenden – denn: Nichts ist, wie es scheint.

 
Um dies in all der Tiefe seiner tatsächlichen Bedeutung zu erfahren, können sich Ihre Sinne aufnahmebereit und erinnerungsträchtig auf eine Achterbahn der Assoziationen begeben – Karla Gänßler lädt dazu ein.

 

Mit Heike Stephan stellt sich wiederum eine Künstlerin vor, deren persönliche und berufliche Wurzeln in Thüringen und Erfurt zu finden sind. Geboren 1953 in Blankenhain, zog es sie zwar nach abgeschlossenem Studium und Tätigkeit als Lehrerin für Kunsterziehung und Deutsch wie auch als freischaffende Künstlerin in Erfurt u. a. auf den Gebieten der Textil- und Objektkunst, Fotografie und Performance 1983 nach Berlin, wo sie sich in eine junge Kunstszene und vor allem in alternative Frauengruppen ebenfalls mit ihrer kreativen und experimentellen Arbeitsweise, u. a. auf dem Gebiet der damals auch international erst neu entstehenden Body-Art, unübersehbar einbrachte, ist jedoch seit 2000 wieder nach Thüringen, in den kleinen Ort Löhma, zurückgekehrt und stellt nun – nach Arbeitsstipendien und Präsentationen u. a. in New York, Moskau, Basel und Kiel und einem Lehrauftrag an der Hochschule der Künste in Westberlin – erstmals seit über 30 Jahren wieder in Erfurt aus. Immer wieder erprobt sie neben den Performance-Inszenierungen neue Wege des Ausdrucks über Materialien und Techniken, die sie auf ungewohnte, unerwartete Weise zusammenführt: Sie benähte grafisch Folien, ätzte Metall und entwickelte mit ihren Grafitbildern Mitte der 90er Jahre ein eigenwilliges Verfahren farbreduzierter grafisch-reliefhafter Objekte von vielschichtig verwirrender Aussagekraft mit Bezug zu eigenen literarischen Texten. Daneben steht weiterhin die Fotografie, jetzt jedoch mit collageartiger digitaler Verschmelzung verschiedener Zeitebenen. Neu entdeckt hat sie für sich  – auch durch die Möglichkeiten der Arbeit in den Erfurter Künstlerwerkstätten – das experimentelle Emaillieren, das in einer aktuellen Werkgruppe, spröde und sensibel zugleich und entstanden u. a. beim letzten internationalen Erfurter Emailsymposium, das seine Ergebnissse im Frühjahr 2006 im Vorderhaus Krönbacken zur Debatte stellte, auch diese charakteristischen Züge ihrer vielseitigen künstlerischen Persönlichkeit widerspiegelt.

 
In dieser Exposition, gewidmet ihrem jüngst verstorbenen Gefährten Klaus Renft, stellt Heike Stephan bewusst Gegensätzlichkeiten aus, wie sie auch ihre Weltsicht und Kunstauffassung prägen, beherrscht von einer tiefen innerlichen, innersten Bewegtheit, die sich nacherlebbar in expressiver äußerlicher, äußerster Bewegung manifestiert, die auch die Preisgabe des eigenen Körpers in seiner intimsten Ansprache nicht scheut. Verletzlichkeit und Verletztheit, getragen von einer großen inneren Stärke, die letztlich ihr Überleben sichert, spiegeln sowohl die Fotoserien aus den 80er Jahren, z. T. noch in Erfurt mit dem Selbstauslöser bei einer Performance hinter bemalten transparenten Folien entstanden, als auch in den wie spontan hingeschrieben Emails, einige davon in einer „Tagebuchblätter“ genannten Gruppe über die Grenzen der gestalterischen Konventionen hinaus schmerzvoll aufgebrochen mit wie Wunden gesprungenen Oberflächen und gerissenen, gesplitterten Kanten. Andere Emailarbeiten, zurückgenommener in ihrer Bildsprache, berühren durch sanfte Trauer, verborgen hinter unergründlichem nachttraumtiefem Blau oder nebelblassem Rosa-Oliv auf fast monochrom modulierten Platten.

 
In der Ausstellung werden zwei scheinbar unvereinbare Schaffenslinien miteinander konfrontiert:

 
Die Perfomance, ein Novum in der DDR und öffentlich kaum goutiert, erschien Heike Stephan Anfang der 80er Jahre als der konsequenteste Weg, die Grenzen nicht nur des eigenen Körpers und Geistes auszuloten und zu überspringen – ob in riesigen Seidenbahnen der Gewalt des Windes ausgesetzt oder farbüberströmt in grellen Posen. Die Fotografie schuf dabei eine zweite, eigenständige künstlerische Ebene, die nicht nur als Dokumentation Bestand hat, sondern neue Aspekte der Vorgänge sichtbar macht. Doch immer wieder gewinnt sie Distanz zum eigenen Körper und kehrt zur Abstraktion der Arbeit auf Bildflächen zurück, wenn auch hier immer im Bewusstsein der Körperhaftigkeit bildnerischer Arbeit.

 

Auf unverwechselbar berührende Weise verbinden sich beispielsweise körperbezogene Expressivität und seelische Empfindsamkeit in den Grafitbildern, die in Entstehung und Ergebnis nahezu therapeutische Kraft besitzen: Auf gekreideten Architektenpappen bilden Ritzungen und Fingerspuren in Zinkweiß Zeichen und Zeichnungen, Texte und Texturen, fragmentarisch, apokryph, verloren und wieder gewonnen in Raum und Zeit durch darüber geriebenes schattenweiches Grafit, das zugleich enthüllt und wieder verbirgt.
Schwarz und Weiß, aber auch alle Nuancen dazwischen, die den Reichtum des Lebens fassen, dominieren Heike Stephans Ouevre in Fotografie und Grafik, ihren bevorzugten Medien neben Performance und dem in den Erfurter Künstlerwerkstätten für die eigenen künstlerischen Potenzen neu entdeckten Industrie-Email.

 
Brillant spielt sie mit der Verknüpfung dieser Medien in ihrer Hommage an Katharina von Bora anlässlich deren 600. Geburtstags 1999, inspiriert von einem Besuch des Klosters Nimbschen, aus dem die aufmüpfige Nonne und künftige Frau Luther einst floh. Fotos von Perfomances, aber auch Porträtaufnahmen ihrer Großmutter, historische Darstellungen und eigene bildnerische Findungen fließen in einer vielschichtigen Aquatintagruppe zusammen, die so subtil wie andere Arbeiten der Ausstellung provokant Fragen nach dem Selbstverständnis von Frauen stellt und eine eigene selbstbewusste Position dazu bezieht und verteidigt.

 

Wer beide Ausstellungen miteinander vergleicht, kann nicht übersehen, dass über dieses zeitgleiche Ausstellungsprojekt unter einem Dach zwei wahlverwandte Künstlerinnen aufeinandertreffen, die sich berühren und ergänzen, als ob sie jahrelang zusammen gearbeitet hätten, und doch in ihren eigenwilligen Persönlichkeiten nebeneinander und zuweilen sogar gegeneinander bestehen.

 
Für beide sind Worte unverzichtbarer Bestandteil ihrer Bildarbeit – eigene Texte bei Heike Stephan, Lyrik ihr geistesverwandter Autoren bei Karla Gänßler; Musik begleitet als wichtige Grundklang beider Tun.

 
Und: Beide Künstlerinnen, durch ähnliche Lebenserfahrungen geprägt, reagieren auf eine einander sehr nahe Weise und doch auch unverwechselbar verschieden sensibel und verletzlich auf ihre alltäglichen Begegnungen mit dem Leben in all seinen Facetten, Höhenflügen und Abgründen, Verlusten und Gewinnen und lassen uns über ihre Arbeit daran teilhaben, wünschen spürbar die Begegnung und Berührung mit anderen Menschen über die Brücke ihrer Kunst.

 
Vielleicht könnte das der Heiligen Elisabeth für den Auftakt ihres Jubiläumsjahres gefallen: zwei Schwestern im Geiste – starke, sensible Frauen, die allen Anfechtungen des Lebens mit all ihren Kräften und auf ihre ganz besondere Art Paroli bieten!

 

Erfurt, Januar 2007  |  Dr. Jutta Lindemann