Alles beginnt mit einem Punkt, einem Strich, einem Buchstaben, einem Wort.
Oder, wie Lao Tse sagt:
Für Schweres sorg, solange es leicht ist,
und für Großes, solange es klein ist,
denn alles Schwere der Welt ward aus Leichtem
und alles Große entsteht aus Geringem.
Nie müht sich darum der Weise um Großes,
und so vermag er Großes zu schaffen.
Im Anfang war ein kleines schwarzes Täfelchen. Man konnte es an den Laptop anstöpseln. Und nun? Falsch! Es gibt Geschichten mit mehreren Enden – hier ist die mit mehreren Anfängen.
Im Anfang war das Mandala – oder genauer die Mandalas, die meine Freundin Monika aus bunten Papieren, schimmernden Stoffen und funkelnden Fäden macht. Mandalas???
Eigentlich eine ganz alte Sache und von ganz weit her: Ein Mandala ist eine mythische Kreisform, die in ihrer vielen Völkern seit Jahrtausenden vertrauten magischen Wirkung von Ganzheitlichkeit und Geborgenheit, von Meditation und Konzentration, von einem heilenden Weg zur eigenen Mitte in Ruhe und Besinnung ihrem eigenen Schutzbedürfnis ebenso entspricht wie sie in der Seele des Betrachters unversehens geradezu therapeutische Kräfte entfalten kann.
Oder, wenn eine offizielle Definition gebraucht wird:
Das Mandala (Sanskrit: „Kreis“, „Ring“) ist in den Religionen des indischen Kulturkreises ein mystisches Diagramm, welches in konzentrierter Anordnung – meist aus einer Verbindung von Quadraten und Kreisen – den gesamten Kosmos, die Götterwelt oder auch psychische Aspekte versinnbildlicht und als Meditationsbild gilt. Mandalas stellen symbolhaft eine religiöse Erfahrung dar; sie sollen bestimmte geistige Zusammenhänge (die von einem Zentrum ausstrahlenden göttlichen Kräfte im Universum, die Einheit von Mikrokosmos und Makrokosmos) verdeutlichen und den Menschen in ihrer Visualisierung und Meditation zur Einheit mit dem Göttlichen führen. Besonders ausgeprägt ist der Kult des Mandala im Lamaismus (außer gemalten Mandalas auf Thangkas, auch aus Farbstaub kunstvoll hergestellte Mandalas), wo auch Klöster vielfach nach dem Grundriss eines Mandalas gebaut sind. Komposition, Gestaltung der Figuren und Farbgebung unterliegen einer religiös festgelegten Symbolik. Das Mandala entspricht dem hinduistischen Yantra.
In der Tiefenpsychologie C. G. Jungs werden dem Mandala ähnliche bildhafte Gestaltungen und Trauminhalte als Symbole der Selbstfindung (Individuation) interpretiert.
Soweit die Brockhaus Enzyklopädie von 1991.
Mandalas symbolisieren in veränderlichen Gestalten den Kreislauf der Natur in der Verknüpfung von Raum und Zeit: Die Form wandelt sich vom plastischen Zeichen für Sonne über Himmel, Erde, Ei, Kosmos, Gegensätzlichkeit, Sanduhr, Rad bis hin zum Zeichen für Leere.
Der Kreis und seine körperhaft-räumliche Entsprechung, die Kugel – als Ei und Samen, Kokon und Kapsel, Blüte und Frucht, Planet und Umlaufbahn, Fingerring und Halsreif, Turm und Stadtmauer – ist eine dem Menschen in seinem Innersten und aus ältester Welterfahrung zutiefst vertraute Form.
In Kreis und Kugel fühlt man sich wie ein Embryo geborgen und bewahrt – doch auch gebunden und gefangen, sind ihre Grenzen zu dicht und eng gezogen, ihre Wände zu undurchdringlich.
Im Märchen gibt es die Dornenhecke, die durchbrochen werden muss, aber auch die goldene Kugel des Froschkönigs als magischen Ausgangspunkt für eine schicksalhafte Lebenswende.
Doch diese Form suggeriert auch die geistige und reale Bewegung von innen nach außen und von außen nach innen, und so gilt das Formen eines Mandalas von innen nach außen als Therapie der Ermutigung und Selbstbefreiung, das Gestalten von außen nach innen als Weg der Beruhigung und Selbstbesinnung. Auf den Brücken von Liniennetzen gleiten unsere Blicke und Gedanken rotierend um die Konturen der Form herum, aber ebenso in fließend und pulsierend hinein und hinaus.
Zarte Linien setzen sich aber auch bewusst im taoistischen Sinne gegen die große geschlossene Gesamtform durch, lösen sie auf, stellen ihre Stärke in Frage, zeigen die Kraft des Schwachen, die Größe im Kleinen und die Möglichkeit und Notwendigkeit des produktiven Miteinanders von Großem und Kleinem. Überlagerungen durch transparente Gespinste brechen und hinterfragen das zuerst so Eindeutige, säen Zweifel, wecken Neugier und Entdeckerlust, Aufmerksamkeit für das zuerst Unauffällige, Bescheidene in seiner verhaltenen Kostbarkeit: das Universum unter dem Brennglas.
Mandalas widerspiegeln in sich geschlossene, aber trotzdem durchaus auch widersprüchliche und vor allem stark emotional geprägte Lebenskosmen – wie etwa im kleinen die Befangenheit und Bedrängnis des einzelnen in nächtlichen Traumwelten einerseits oder dessen ausstrahlenden Lebenswillen in der Tagwelt andererseits, im großen aber auch die dumpfe, aggressive Bedrohung des Lebens in seiner Gesamtheit oder eine unbeirrbare Sehnsucht nach Licht und Liebe gegen alle Widerstände und voll pantheistischer Hoffnung auf ein letztlich doch harmonisches Universum im großen wie im kleinen.
Diese ersehnte Harmonie entsteht dabei allerdings nicht durch Gleichförmigkeit und Gleichschaltung, sondern durch fortwährende Auseinandersetzung mit Widersprüchlichem, durch Streit und Versöhnung der Gegensätze zu Erkenntnisgewinn und Fortentwicklung.
Voll und leer gebären einander
Leicht und schwer vollbringen einander
Lang und kurz bedingen einander
Hoch und niedrig bezwingen einander
Klang und Ton stimmen einander
Vorher und nachher folgen einander …
So gedeihen die Dinge ohne Widerstand
So lässt der Weise sie wachsen und besitzt sie nicht …
Und da er nichts nimmt
Verliert er nichts.
Das sagt Lao-Tse.
Und das sagt das Mandala, geduldig geformt von Menschenhand.
Aber auch ist nicht die ganze Wahrheit – es gibt noch eine dritte Quelle: Im Anfang war eine kleine Papprolle – wenn man in die reinguckte und sie drehte, wirbelten am anderen Ende in allen Farben glitzernde Steinchen umeinander und bildeten immer neue, raffiniert symmetrische Zauberbilder – wie Broschen für Prinzessinnen oder Märchenfeen … das fand ich jedenfalls als ganz kleines und auch viele Jahre später als schon ziemlich großes Mädchen, als ich solch einen Schatz vom Weihnachtsmarkt nach Hause trug …
Es ist wohl alles zusammen: Kaleidoskop, Mandala und Grafiktablett.
Das Computerprogramm schenkt mir allerdings für meine Mandala-Kaleidoskope die Bausteine für das Spiel, wenn es denn endlich rund gehen soll: Ich kann die Symmetrie graduieren – fünf, fünfundfünfzig oder hundertfünfzehn Wiederholungspunkte, gerade oder ungerade Anzahl. Ich kann die Stärke des Stiftes oder Pinsels variieren und die Transparenz des Farbauftrags, die Form der Strichspur. Ich kann vorgefertigte Stempelformen – diverse geometrische Ornamente, aber auch Blätter, Blüten, Ranken, Sterne – in unterschiedlichen Größen ergänzen. Und ich kann Farben und Linien einander unendlich überlagern, aber auch alles wieder ausradieren oder in verschiedenen Breiten verwischen und verfließen lassen.
Ich kann jedes Stadium bewahren und immer aufs Neue variieren, weiterentwickeln.
Und ich kann alles mit anderen Programmen kombinieren, kann jederart Bilder und Fotos als Ausgangsmaterial nutzen … und … und … und … wahrscheinlich niemals alle dieser unendlichen Möglichkeiten bis zum Ende ergründen.
Doch was auch immer entsteht, entscheidet nicht das Programm – es liegt in meiner Hand, die meinem Kopf und meinem Herzen wie ein Seismograph folgt.
Mild oder wild, zart oder hart – die schnelle Reaktion des Programms lässt der akuten Seelensituation freien Lauf, spontan springt oder träge tropft Herzblut aufs Papier.
Das ist Therapie – ergebnisoffen und doch immer reich an Resultaten.
Nicht schädlich dabei sind allerdings Erfahrungen mit und Empfindungen für Farbe, Rhythmus, Kontrast und Harmonie, dann bleibt es nicht beim Zufallserfolg.
Und es wird auch erst dann ein künstlerisches Konzept, eine ästhetische Haltung möglich und schließlich erkennbar, die aus der Arbeit in ihrem Verlauf sukzessive und durchaus nicht immer planvoll erwachsen.
Et voilá – da ist es: das KaLINdoskop, das MaLINDAla!
Kenne das Männliche, aber bewahre das Weibliche.
Kenne das Licht, aber bewahre den Schatten.
Kenne das Hohe, aber bewahre das Niedrige….
So stellt der Weise sein Selbst zurück
Und ist den anderen voraus
Wahrt nicht sein Selbst
Und es bleibt ihm bewahrt
Denn ohne Eigensucht
Vollendet er das Eigene.
Tja, und Lao-Tse wusste es schon.
LINDA, Oktober 2011, u. a. unter Verwendung anderer eigener Texte