Judaica – Made in Schwäbisch-Gmünd

Laudatio zur Vernissage am 20.10.2004 in der Begegnungsstätte Kleine Synagoge

Will man das Wesen, den Geist einer Lebenshaltung, Philosophie oder Religion fassen, so sucht man oft nach sinnlich wahrnehmbaren Phänomenen, die dies symbolisch verdichtet und materialisiert haben.

 

Für mich, die ich mich schon vor Jahrzehnten für jüdische Kultur und Lebensweise interessierte, aber kaum Möglichkeiten zum Kontakt fand und nicht einmal ahnte, dass eine – wenn auch kleine – jüdische Gemeinde in Erfurt existierte, war der siebenarmige Leuchter, die Menora, der Inbegriff alles Jüdischen, und so besitze ich seit knapp 40 Jahren ein schmiedeeisernes Exemplar aus der Hand eines Erfurter Schmiedes.

 

Aber ebenso wie die mir wichtige Symbolkraft dieses Gegenstandes faszinierte mich vom ersten Augenblick an seine unübertroffen vollendete Form, die der vorgegebenen Funktion kaum besser entsprechen kann und zugleich zu einem unverwechselbaren, unerschöpflich variierbaren und modulierbaren bildnerischen Zeichen stilisiert ist.

 

Und doch genügt das natürlich nicht; es kann nur ein Teil des Weges sein, auf dem wir Nichtjuden – Gojim – uns dem Phänomen Judentum zu nähern versuchen, aber es kann auch für Juden in der Gegenwart gelten, die ihre Wurzeln finden wollen.

 

Judentum blieb auch mir zwar über meine erste und manche weitere Menora nah, doch auch die Erläuterung ihrer Funktionen und die ihrer besonderen Form für Chanukka brachte mich nur in kleinen Schritten an ein tieferes Verständnis für jüdisches Fühlen und Denken heran, um das ich mich noch heute und immer wieder bemühen muss, ohne es bisher vollends erfasst zu haben.

 

Und doch halte ich es für eine glückliche Idee, über eine Judaica-Ausstellung diesen Weg für viele zu öffnen, denn die hier gezeigten kleinen Kostbarkeiten lassen uns spüren, wie diese fremde Welt durch unsere Türen tritt und wie zugleich Geschichte in unsere Gegenwart hineinwächst.

 

Offenbar war dies auch ein Motiv für den Sammler William L. Gross, ein Projekt ins Leben zu rufen, dessen Resultate diese Exposition präsentiert, denn er ist der überzeugenden Auffassung, „dass jeder Gegenstand eine Öffnung darbietet, durch die man eine bestimmte Zeit und Ort betrachten und die künstlerischen, kulturellen, religiösen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zusammenhänge dieser Zeit und dieses Ortes verstehen lernen kann, innerhalb derer das Objekt geschaffen wurde.“

 

Grundstein der Sammlung war der Fund eines Gewürzturms aus dem 18. Jahrhundert. Entdeckt wurde bei der Suche nach der Herkunft dieses Bsamims eine Verbindung zwischen jüdischen Gemeinden in Galizien und der Silberschmiedestadt Schwäbisch Gmünd, die wie sich herausstellte, auf gemeinsame historische Ursprünge zurückzuführen ist, die wiederum in der Stadtgeschichte fußen.

 

Auf interessant Weise passt übrigens sogar Erfurt in diese Topografie der Judaica: Hier wurden früher für ganz Deutschland und möglicherweise auch darüber hinaus Schofarhörner hergestellt, Widderhörner, die, in der Synagoge geblasen, das Volk zu Reue und Gebet aufrufen sollen.

Judaica erklären sich wie anderes liturgisches Gerät in ihrer Gestaltung zuallererst aus ihrer religiösen Funktionalität.

 

Im Gegensatz zum Christentum vollziehen sich jedoch im Judentum religiöse Handlungen in sehr umfangreichem Maße auch außerhalb des Gotteshauses im familiären Kreis, und zwar zumeist im Zusammenhang mit dem Vorgang des gemeinsamen Essens, zum Beispiel anlässlich des allwöchentlichen Sabbats, Schabbats oder Schabbes. Dazu werden bestimmte rituelle Gegenstände benötigt, wie der traditionelle Ablauf deutlich macht, und auch arme Familien legen deshalb viel Wert darauf, diese Gegenstände zu besitzen, notfalls auch selbstgefertigt aus profaneren Gegenständen und aus schlichteren Materialien wie Glas, Holz oder Ton.

 

Während die Männer in der Synagoge sind, bereiten die Frauen zu Hause das Fest vor: Sie entzünden die Kerzen (meist nur zwei) in den Messing- oder Silberleuchtern oder auch – im aschkenasichen Raum – Sabbatlampen, z. B. in Sternform zum Aufhängen über dem Tisch. Auf den Tisch gehört unbedingt auch ein Kidduschbecher, im bewussten Gegensatz zu christlichen Abendmahls-Pokalen sechs- oder achteckig, zumeist auch aus Silber und mit einem Segensspruch verziert, mit dem der vom Gottesdienst heimgekehrte Vater den Wein segnet und die häusliche Feier einleitet. Anschließend darf jeder Anwesende vom Wein trinken.

 

Da bei den während des Sabbat stattfindenden Synagogen-Gottesdiensten – anders als im Christentum – auch wenigstens sieben der für einen öffentlichen Gottesdienst und vor allem für das Toralesen ohnehin mindestens zehn notwendigen anwesenden Gläubigen zum Lesen aus der Torarolle aufgerufen werden, helfen ihnen die meist wie Hände gestalteten und kalligraphisch oder ornamental fein verzierten hölzernen oder silbernen Torazeiger, die Zeile zu halten, denn es ist untersagt, den Text mit der eigenen Hand zu berühren.

 

Der Gewürzbehälter schließlich gewinnt am Samstag nachmittag zum Ende der häuslichen Schabbatfeiern seine Bedeutung, zur Havdala, der Trennung zwischen Schabbat und den folgenden Wochentagen: Um die Menschen zu trösten, weil sie nun die Schabbatbeseelung verlassen müssen, dürfen sie sich am Duft der Bessamim genannten Gewürze – vor allem Nelken, aber auch duftende Kräuter – erfreuen, die in Gewürzbüchsen bewahrt werden, in Europa oft als gotischer Turm, aber auch als Fisch geformt, und ebenfalls den Segen des Kantors oder des Familienvaters erhalten.

 

Ebenso wie die schlichtere siebenarmige Menora leitet auch der achtarmige Chanukkaleuchter mit seinem zum Entzünden der anderen vorgesehenen und oft besonders betonten neunten, mittleren Arm, dem Schammes genannten „Diener“, seine beeindruckende Form von ganz eindeutigen funktionellen Ansprüchen ab, die mit der symbolischen Bedeutung von Zahlen zusammenhängen: Während beispielsweise beim Sabbat durch das Niederlegen jedweder produktiver Arbeit und ihr verwandter körperlicher Tätigkeiten den siebenten, von Gott geheiligten Ruhetag nach der Schöpfung gefeiert wird, erinnert dagegen das Lichterfest Chanukka an das Wunder der acht Tage, für die nach der Befreiung Jerusalems von der Herrschaft des Syrerfürsten Antioachas im Jahr 164 v. u. Z. das Öl einer einzigen Tagesration Öl genügte.

 

Um sich diese und viele andere kostbar gestalteten Kultgegenstände nicht nur für die Synagoge, sondern auch für den häuslichen Gebrauch zum wöchentlichen Schabbat und den zahlreichen anderen Festen, die den Jahresverlauf begleiten, leisten zu können, mussten günstige Hersteller gefunden werden.

 

Schwäbisch Gmünd, dessen Werkstätten das erste Stück der Sammlung entstammt, hatte seit seiner Gründung vermutlich in der 1. Hälfte des 12. Jahrhunderts bis zum Ende des 14. Jahrhunderts und dann erst wieder seit Anfang des 19. Jahrhunderts bis zum Beginn des 2. Weltkrieges jüdische Gemeinschaften und anfangs auch sogenannte Schutzjuden in seinen Mauern und zugleich auch eine reiche Tradition in der Silberschmiedekunst, was es nahelegte, eine umfangreiche Produktion von Judaica ins Programm aufzunehmen. Dabei sind die Formeinflüsse jeweiligen Zeitstile bis auf die gotischen in den Bsamimtürmen oft kaum erkennbar; die Funktion ist prägender, selbst die glättenden, fließenden Linien des Jugendstils erscheinen eher gotisch inspiriert, und das 20. Jahrhundert bringt vor allem eine größere Schlichtheit.

 

Produktion und Vertrieb der Judaica aus christlichen Werkstätten vollzogen sich jedoch inoffiziell, fast illegal, neben der offiziellen Herstellung von profanem und christlich-religiösem Schmuck und Gerät, mit dem die entstandenen Judaica auch immer wieder gestalterische Verwandtschaften aufweisen, wenn nicht rituelle Formvorgaben dies einschränken. Auch in den Musterbüchern verbergen sich die Judaica zwischen all den vielfältigen Formvarianten.

 

Eine besondere Rolle spielt dabei die besonders fragile Filigrantechnik, eine plastische Montage aus gebogenen Drähten, gelegentlich kombiniert mit Steinen und Emailminiaturen, die seit 1692 in Gmünden nachgewiesen ist und deren Höhepunkt für die Gmündener Silbermanufakturen im 18. Jahrhundert zu sehen ist, ehe im 19. Jahrhundert eine Massenproduktion und im 20. Jahrhundert sogar die maschinelle Filigranerzeugung einsetzt, wonach das Filigran als Gestaltungsmöglichkeit grundsätzlich an Bedeutung verliert. Doch bis dahin folgt es, wenn auch verhalten, den Auffassungen der Kunstgeschichte von der eher strengen gotischen Formsprache über den schwelgerisch üppigen Barock und das heiter zierliche Rokoko bis zur immer stringenter werdenden Gestaltung des 20. Jahrhunderts.

 

Judaica aus Gmünden wanderten vor Jahrhunderten zunächst mit ihren Besitzern bei ihrer Vertreibung bis weit nach Osteuropa und Russland aus, doch erweiterte sich dadurch auch für die folgenden Jahrhunderte der Kundenkreis Gmündener Silberschmiede über Deutschland hinaus.

 

Da es Juden in der Diaspora oft nicht möglich war, bei bekannten Meistern das nötige Handwerkszeug zu erwerben, weil die herrschenden christlichen Zünfte zugleich auch Religionsgemeinschaften waren, waren sie auf die Herstellung ihres Kultgerätes durch christliche Handwerker angewiesen, was diesen ihre jüdischen Abnehmer sicherte. So wie das jedoch zumeist teurere Augsburg wurde auch Schwäbisch Gmünd für die Gold- und Silberschmiedekunst auf diese Weise ein wichtiges Zentrum.

 

Die große Nachfrage forderte vor allem bei den handwerklich aufwändigen Bsamimtürmen, die nicht zufällig christlichen Monstranzen ähneln, geradezu die serielle Produktion heraus. Musterbücher, Schablonen und danach gefertigte, variabel montierbare Einzelteile wie Fähnchen, Sterne, Knöpfe und Knäufe oder rein technische Elemente, aber auch serielles Filigran, ergänzt beispielsweise durch als Unikate handbemalte Emailmedaillons mit biblischen Szenen, belegen noch heute, dass Judaica aus Schwäbisch Gmünd bei aller Effektivität in der Herstellung zugleich vielfältig und individuell in der Detailgestaltung sind.

 

Zum modernen seriellen Arbeiten gehört auch, dass die Elemente nicht mehr einzeln von Hand geformt – z. B. geschmiedet oder getrieben – werden, sondern dass Bleche in vertiefte Negativformen aus Stahl, sogenannte Gesenke, zu Hohlkörperhälften gepreßt werden, die dann aneinander montiert werden, so dass nach Vorlagen aus Musterbüchern immer gleiche Grundkörper entstehen, die erst durch variable Details individuell ausgestaltet werden. Und auch so bricht die Moderne in die Tradition ein.

 

Einige der Firmen, die oft über Jahrhunderte und sogar während des Nationalsozialismus mehr oder weniger illegal Judaica herstellten, gaben ihre Produktion erst vor wenigen Jahren auf, manche existieren noch heute.

 

Ausgewählt für diese Ausstellung wurden Arbeiten der Firmen Gebrüder Kühn, Gebrüder Deyle, Hans Wanner und Ott-Pause. Ihnen wie auch dem Sammler William L. Gross und den Museen als Leihgebern ist es zu danken, dass eine ganz besondere Seite deutscher Handwerkstradition wiederentdeckt werden konnte. Sie legt Zeugnis ab vom jahrhundertelangen engen Zusammenleben von Juden und Christen, aber auch von der gebrochenen Haltung zueinander, von Nähe und Fremdheit, Annäherung wie Abgrenzung zugleich. Und auf eine besondere, ästhetisch stille Weise weist sie uns den Weg weiter aufeinander zu.

 

Erfurt, 18.10.2004 | Dr. Jutta Lindemann