Zur Eröffnung der noch laufenden Ausstellung „Farben des Lebens“ des CJD Thüringen im Alten Archiv des Rathauses fand ich für die Laudatio das folgende Gedicht einer jungen Frau, die mit ihren Texten an der Ausstellung beteiligt ist.
Mit ihren Worten möchte ich auch diese Ausstellung eröffnen, ich denke, Sie alle werden das verstehen, wenn sie es hören:
Noch liegt Schnee,
noch brauchen die Vögel die Menschen,
noch ist es kalt in der Nacht.
Doch der Tag wird länger
Und die Monate zeigen den Frühling an.
…
Rufe den Frühling, Seele,
doch vergiss nicht den Winter,
liebe ihn so, wie er Schnee gibt und Kälte
und das Vertrauen der Vögel –
s‘ ist seine Schönheit!
(Aus: „Winterlied“ von Niola Tiepel)
Was mich an diesen Worten, als ich sie vor einiger Zeit zum ersten Mal las, besonders berührte, ist der mit so bildhafter und schlichter Eindringlichkeit formulierte Gedanke, dass das Leben zwei Seiten hat, denen man gleichermaßen Beachtung schenken muss, will man es in seiner Gänze und Komplexheit erfassen. Das Leben besteht aus Sommer und Winter, Licht und Schatten, Freude und Schmerz, Gesundheit und Krankheit in gleichem Maße.
Wie oft jedoch versuchen wir gerade dann, wenn es uns gut zu gehen scheint – aus Selbstschutz oder auch nur Bequemlichkeit oder Gedankenlosigkeit – die andere dunklere Seite zu vergessen und zu verdrängen.
Das betrifft auch Menschen an unserer Seite, in deren Leben Schmerz und Krankheit Alltag ist und die immer wieder viel Mut und Kraft, aber auch Hilfe brauchen, von jedem von uns. Denn der Schritt aus dem Licht in den Schatten, von der Gesundheit in die Krankheit ist schnell getan, und jedem von uns kann dies in jedem Augenblick seines Lebens geschehen, ohne eigenes Dazutun, ohne eigenes Verschulden. Umso wichtiger ist es, immer wieder sichtbar und fühlbar zu machen, dass eine Krankheit, die manchmal zu einer lebenslangen Behinderung führt, nicht alle Wege zum Licht, zur Lebensfreude versperrt. Im Gegenteil, durch sachkundige Unterstützung können sogar ganz neue Kräfte in den betroffenen Menschen entdeckt und aktiviert werden, und die dann Dinge schaffen, die uns alle vorbehaltlos einfach nur begeistern können und die auch unser aller Leben auf unverwechselbare Weise bereichern. Und ganz besondere Möglichkeiten dafür bietet die Beschäftigung mit Kunst in allen ihren Ausprägungen, ganz besonders aber mit bildender Kunst.
Denn Kunst greift tief in das Wesen eines Menschen, fördert über ihre ganz besonderen emotionalen Potenzen, seinen seelischen Reichtum zutage und baut eine Seelenbrücke zwischen ihrem Schöpfer und den Betrachtern der Werke.
Und konfrontiert mit dem ewigen Streit, ob bildnerische Arbeiten von Menschen mit Behinderungen oder auch von Kindern wirklich Kunst sind oder eines bewusst aufgebauten und zielgerichtet realisierten Konzepts bedürfen, um so genannt werden zu dürfen, kann ich hier nur meine persönliche Meinung kundtun: nämlich, dass es für mich entscheidender ist, dass mit künstlerischen Mitteln gearbeitet und – noch wichtiger – der Weg zu den Gedanken und Gefühlen der Betrachter auf künstlerische Art gefunden wird, was die Werke dieser Ausstellung unbestreitbar in einer alle Zweifler überzeugenden und bezwingenden Weise tun. Und ich meine ein Recht zu haben, das zu behaupten, da ich mich seit vielen Jahren mit Kunstäußerungen sowohl von Berufskünstlern (als Mitglied des VBK und Galerieleiterin) als auch von Kindern (als Mitglied des KinderKunst-Vereins) und von Menschen mit Behinderungen (durch Kontakte zu Kunstprojekten des Erfurter Christophoruswerkes) beschäftige.
Hochachtung bis zur Bewunderung kann jeder nur empfinden, der diesen Bildern gegenübersteht, die sich zwar kaum an der aktuellen Kunstwelt orientieren (höchstens indirekt über die Auffassungen der Betreuer), aber dafür umso direkter, spontaner und ehrlicher die Lebenshaltung ihrer Schöpfer widerspiegeln, ihre Wünsche, Träume, Hoffnungen, aber auch Enttäuschungen und Verletzungen ebenso wie ihre täglichen inneren wie auch äußeren Erfahrungen und Erlebnisse mit sich selbst und der sie umgebenden Welt, ihre Freude an einfachen, aber schönen Dingen des Alltags, aber manchmal einfach auch nur an der Leuchtkraft und dem spannungsvollen Miteinander von Farben, am bewegten Kontrast unterschiedlicher Formen, die wie Schauspieler in einem Drama auf der Bühne einer Bildfläche gegeneinander antreten können, am Fließen und Springen des Pinsels über das Papier oder die Leinwand, der zur Erinnerung an diesen Spaß lebendige Linien unterschiedlichsten Charakters darauf hinterlässt – so unterschiedlich wie die Charaktere der Malerinnen und Maler, die ihn geführt haben oder sich von ihm haben führen lassen.
Diese starke Prägung durch die besondere Persönlichkeit des jeweiligen Schöpfers bewirkt auch, dass sich häufig und auch ohne bewusstes künstlerisches Konzept sogar individuelle bildnerische Handschriften ausbilden.
Was all diese Bilder aber ganz besonders auszeichnet, ist die unübersehbare Liebe zu diesem reichen bunten Leben da draußen, aber auch da ganz tief innen in den Seelen und Herzen, wie ein Echo hervorgerufen eben auch durch die Liebe und Aufmerksamkeit, die den Schöpfern dieser Bilder entgegengebracht wird – und das umso stärker, je mehr sie davon erhalten.
Und mehr noch als beim professionellen Künstler gewinnt die Anerkennung durch die Betrachter an Bedeutung, mit denen der Schöpfer über die Kunstwerke in einen Dialog tritt, denn neben dem wichtigen Wir-Gefühl der Arbeitsgruppe im Workshop ist der Gewinn an berechtigtem Selbstbewusstsein und lebensnotwendigem Selbstvertrauen die wirksamste Therapie, die es gibt.
Am allerwichtigsten ist aber wahrscheinlich das Glück, mit den eigenen Händen etwas ganz Besonderes schaffen zu können, das anderen Freude bereitet – ein Glück, das gar nicht so vielen Menschen in ihrem Leben vergönnt ist.
Das Projekt „Farbartisten“ des Christophoruswerkes Erfurt, dessen von Monika Besser mit Unterstützung ihres Mannes Helmi betreute Arbeiten ich schon seit vielen Jahren kenne und bewundere und auch schon öfters in Ausstellungen begleiten konnte, hat in diesem Jahr eine besondere Qualität und Dimension gewonnen durch ein neues Ziel: Die Idee, ein Hotel für Menschen mit Behinderungen von ebensolchen Menschen künstlerisch ausstatten zu lassen, eröffnete dieser Arbeit völlig neue Wege. Mit einer größeren finanziellen Unterstützung als bisher konnten daher auch mehr und bessere (z. B. Acryl-) Farben und Papiere und sogar richtige Leinwände beschafft werden, was wiederum die gestalterischen Möglichkeiten gewaltig erweiterte und dadurch auch neue bildnerische Kräfte bei allen Beteiligten freisetzte.
Und jetzt stehen wir staunend vor den ersten Ergebnissen intensivster Arbeit der letzten Monate, und es fallen einem nur noch Vokabeln ein wie: brillant, beeindruckend, überwältigend!
Und das bezieht sich auf die Vielfalt der phantasievollen Bildideen und eigenwilligen bildnerischen Handschriften ebenso wie auf die unübersehbare Lust und Leidenschaft und in vielen Fällen auch einer unübersehbaren Begabung, mit der alle bei der Sache waren, aber vor allem auf die Originalität und überzeugende Ausdruckskraft der Ergebnisse, die auch so manchen Profi vor Neid erblassen lassen dürften.
Da stehen großformatige geometrisch-abstrakt leuchtenden Farbteppiche, wie sie aus den Händen von Beate Brückmann und Runa Bilow hervorwachsen, und große und kleine Leinwände und Aquarelle von Frank Rastorf, Mathias Lüsebrink und Christiane Funk, über die frei und doch raffiniert aufeinander abgestimmt strahlende Farben auf unverwechselbare Art frei fließen, neben schlicht gebauten heiter-dekorativen Landschaften und Kaffeehaus-Stilleben aus linear gefaßten klaren Farbflächen von Enrico Apelt und Mario Buchheim, der darüber hinaus auch ein vielschichtiges, aus mehrfach abgeklebten Streifen montiertes Bild vorstellt, und da sieht man neben dem großen Panorama mit seinem strengen Rhythmus der einzelnen liebevoll und detailliert gemalten Bildelemente bei Sebastian Krause die hintergründige Fotoübermalung mit ihren geheimnisvollen einander überlagernden Zeitebenen und Sinnschichten von Michael Schön und das zart verhaltene, streng stilisierte Blumenpastell von Susanne Brüning, da entwickeln sich feingliedrige Texturen aus Punkten und Linien im sensibel nachempfundenen Wasserbild von Melanie Neuhoff oder auch aus Buchstabenwirbeln wie bei Michael Sterling.
Und oft, wenn die Bildfläche nicht ausreicht für die überbordende Fülle der Ideen, wird auch gleich der Rahmen mit bemalt und setzt noch einmal neue Akzente. Bei diesem Ideenfeuerwerk wundert es gar nicht, dass auch Funken auf die engagierten Betreuer zurückspringen und ganz neue Inspirationen für die eigene künstlerische Arbeit entfachen.
Die Resultate dieses langen und komplexen Arbeitsprozesses in der Öffentlichkeit vorzustellen, soll über die ermutigende Rückwirkung auf die Künstler hinaus möglichst viele Menschen auf die besondere Situation, aber auch die besonderen Fähigkeiten und manchmal sogar überwältigenden Begabungen von Menschen mit Behinderungen aufmerksam machen. Denn Hilfe und Verständnis für diese besondere Form der Therapieform, die weit mehr ist als das, tun dringend not, um deren Fortsetzung dauerhaft zu sichern und weitere Projekte ins Leben zu rufen, zum Beispiel, ein richtigen Katalog zu machen für alle, die die Ausstellungen nicht original sehen konnten.
Mit dieser und allen folgenden Präsentationen sollen neue Freunde und Verbündete für die so wirkungsvollen und erfolgreichen Kunstprojekte von Menschen mit Behinderungen gewonnen werden: Begeisterte, die eventuell Bilder kaufen oder einfach Geld spenden, Künstler, die selbst mitmachen, Kultureinrichtungen, die Partnerschaften anbieten, wie zum Beispiel Ausstellungsmöglichkeiten wie im Erfurter Rathaus noch oder im Kulturhof Krönbacken vielleicht 2008, und weitere soziale Einrichtungen, die den Wert dieser Arbeit erkennen und eigene künstlerische Programme aufbauen.
Aber am wichtigsten ist es wohl, durch die Begegnung mit diesen eindrucksvollen Kunstwerken und ihren Schöpfern, die Freude und Lebensmut ausstrahlen, selbst Kraft zu schöpfen für einen Alltag, der zwei Gesichter hat: Sommer und Winter, Licht und Schatten, Freude und Schmerz, Gesundheit und Krankheit, und der doch bewältigt werden kann mit Gemeinsinn und Liebe.
Und deshalb möchte ich zum Ende meiner Gedanken noch einmal die schönen Verse von Niola Tiepel wiederholen, deren Gedichte auch zu dieser Ausstellung gehören – weil ich glaube, dass man sie jetzt mit anderen Ohren hört:
Noch liegt Schnee,
noch brauchen die Vögel die Menschen,
noch ist es kalt in der Nacht.
Doch der Tag wird länger
Und die Monate zeigen den Frühling an.
…
Rufe den Frühling, Seele,
doch vergiss nicht den Winter,
liebe ihn so, wie er Schnee gibt und Kälte
und das Vertrauen der Vögel –
s‘ ist seine Schönheit!
Erfurt, 19.02.07 | Dr. Jutta Lindemann