Rückblicke sind eigentlich ein Thema für die Silvesternacht – verbunden mit guten Vorsätzen für die Zukunft. Und möglicherweise richtet sich der Alkoholkonsum in jener reflexionsgeschwängerten Nacht sowohl nach dem Resultat der Rückschau als auch nach dem damit zwangsläufig verbundenen Blick in die potentielle Zukunft.
Fotografieren ist per se eine ständige Rückschau, denn im Augenblick des Auslöserklicks ist das eben Gesehene schon in der Vergangenheit gelandet. Doch sie bewahrt auch Vergangenes und Vergehendes in der Gegenwart für die Zukunft, spielt auf der Klaviatur der Zeitebenen.
Das scheint sie vorrangig als Medium der Dokumentatoren zu prädestinieren. Und doch ist da mehr: das Auge des Fotografen, sein Empfinden, das ihn den Wert des Gesehenen erkennen lässt und es dadurch für ihn bildwürdig macht. Architektur bietet dabei im Kontext rückschaurelevanter, weil geschichtsträchtiger Motive natürlich besondere Möglichkeiten aufgrund ihrer relativ großen Resistenz und Renitenz gegenüber dem gefürchteten Zahn der Zeit – und erst recht, wenn sie in ihrer Konsistenz noch im Verfall die Geschehnisse aus ihrer Glanzzeit widerzuspiegeln vermag. Und Industriearchitektur steht durchaus ebenbürtig in einer Reihe mit den erhabenen und mythenumwitterten Kirchen, Burgen und Schlössern oder auch neuerdings mit hochherrschaftlichen Bürgervillen, ist allerdings, was ihre Erhaltung betrifft, Stiefkind in der letzten Reihe – nicht jedoch zum Glück im Auge zeitgenössischer Fotografen, wie beispielsweise die kürzlich zu Ende gegangene Exposition der Erfurter Kunsthalle mit Arbeiten des inzwischen international renommierten gebürtigen Erfurters Christian Schink nachdrücklich unter Beweis stellte.
Mitnichten will Thomas Limp sicherlich zu Schink eine künstlerische Konkurrenz aufmachen – doch wahlverwandt könnte er sich schon fühlen, was seine Intentionen und Motivationen betrifft, das Gesehene, besser Entdeckte an Hinterlassenschaften des Industriezeitalters für uns zu erschließen, bevor ein Stück unserer jüngsten Lebensgeschichte endgültig in den Orkus der Historie entschwindet. Dass aus einem nachdenklichen Einfach-nur-Hinsehen und dem darauf folgenden aufmerksamen Registrieren von Tatsachen sich peu à peu eine eigene fotografische Sicht auf einen ganz besonderen Gegenstand im Geist des aus der Bildkunst bekannten Vanitas-Gedankens entwickeln kann, wird vor allem in all jenen der zunächst wie zufällige Schnappschüsse wirkenden Aufnahmen spürbar, die sich konzentriert über eine bewusst gewählte Bildkomposition mit Raumstrukturen und Lichtverhältnissen auseinandersetzen.
Limp, der als Autodidakt und ohne bildnerischen Background, aber auch ohne die Ambition eines primären Kunstwillens mit der Kamera vorwiegend im mitteldeutschen Raum und natürlich in Erfurt – seiner Wahlheimat seit einigen Jahren – unterwegs ist, will über die unverstellte und unbearbeitete spontane Wiedergabe gewissermaßen unplugged so direkt wie nur möglich einen Kontakt zwischen der charaktervollen Architektur und ihrem sensibilisierten Betrachter vermitteln – und berührt gerade damit fern aller artifiziellen Interpretation allein durch die Kraft des Sachverhalts und der sich sofort einstellenden fiktiven Assoziationen einstigen Lebens, die in Betroffenen wie Unbeteiligten Erinnerungen wie Emotionen unterschiedlichster Art wecken: Stolz, Heiterkeit, Wehmut, Zorn – in jedem Fall aber Nachdenklichkeit, Empfindsamkeit für die Zeitlichkeit und Endlichkeit alles Gewachsenen und Geschaffenen – und ein Staunen über die Unermüdlichkeit der sukzessive und unbekümmert, aber auch unaufhaltsam alles einnehmenden und besiegenden Natur, und ebenso über die wider besseres Wissen als ästhetisch reizvoll betrachteten, obwohl eigentlich funktionell bestimmten tektonischen Gliederungen und materialgeprägten Texturen von zerbröckeltem Stein und Beton, geborstenem Holz, zersplittertem Glas, verrostetem Metall.
„Sic transit gloria mundi!“ wäre ein nur auf den ersten Blick zutreffender Kommentar – auf den zweiten Blick, eingedenk der aktuellen Situation auf dem Arbeitsmarkt, erscheint er jedoch fast zynisch.
Und auf den dritten Blick kommt in diesem Kontext sogar ein wenig verklärte und verklärende Nostalgie auf – wohl vor allem dem sanften, leicht trüben Licht geschuldet, das alles wie in einen Traumschleier hüllt, mildert und besänftigt – auch wenn es in Wahrheit doch eher ein Alptraum ist, aus dem man irgendwann endlich erwachen möchte.
So gesellt sich Thomas Limp der großen Schar derer zu, die im Wort „gewissenhaft“ vor allem dessen Kern – das Gewissen – sehen und mit den ihnen jeweils zu Gebote stehenden Mitteln genau das in den Betrachtern ihrer Arbeit wach rufen wollen – wenn schon mit lateinischer Headline, dann vielleicht eher mit einem „Memento mori“.
Oder mit den klugen Gedanken eines vor Jahrhunderten Vergangenen, dessen Zeugnis bis heute fortlebt durch seinen lebendigen Geist – Meister Eckhart – und dessen Wort wieder einmal passt , als sei es von ihm gerade eben für diese Ausstellung gefunden: „Denn alles Geschaffene geht auf in Wandlung.“
Den Blick in die Zukunft jedoch, der durch den Blick in die Vergangenheit provoziert werden könnte, den möchte ich uns zumindest für heute ersparen.
Erfurt, 25.05.05 | Dr. Jutta Lindemann