Zu seinem Glück war er gerade aus den Händen der alten Frau heraus um das große Rad geflitzt, als das blonde Mädchen mit dem goldenen Krönchen sich in den Finger stach. So blieb er von Blutstropfen verschont – nicht aber von den Folgen der Geschichte: Die beiden Frauen fielen beim nächsten Atemzug in einen tiefen Schlaf, und alle Angelegenheiten, so auch der frisch gesponnene Faden, blieben liegen. Der Faden hatte nun hundert Jahre Zeit darüber nachzudenken, woher er kam, wer oder was er war und wie es möglicherweise weitergehen könnte, wenn es denn irgendwann weitergehen sollte.
An manches konnte er sich gut erinnern – ein großer Dichter hat das wohl schon einmal beschrieben: Wie er als Flachsstängel unter Sonne, Regen und Sternen aus der dunklen Erde heraus aufwuchs und himmelblau blühte (schön!), wie man den Halm herausriss und gemeinsam mit vielen Brüdern auf verschiedene Weise ziemlich grob behandelte, brach, prügelte, stauchte, wässerte (schon weniger schön …), bis er schließlich, in einem dichten Bausch von der alten Frau auf dem Markt gekauft und um einen Stab gewickelt, neugierig der Dinge harrte, die da kommen sollten. Ob er wohl einmal das Gewand eines Königs zieren würde oder einen kostbaren Teppich zu dessen Füßen oder (noch besser) als Gewebe einen Goldschatz umhüllen oder (das war der schönste Traum) in ihrem Nachtgewand den (vermutlich auch unangezogen ziemlich anziehenden) Leib des blonden Mädchens …? Er träumte sich auch oft in die Welt hinaus, auf weite Reisen nach Ost und West, Nord und Süd, zum tiefen Meer oder zu den hohen Bergen, von denen er von den Regentropfen gehört hatte, die aus den Wolken kamen (und die hatten schon alles schon gesehen auf der Erde) oder gar (wenn ihm gar nichts mehr einfiel) als silbriger Sommernachtsfaden in den Mondhimmel hinein.
Und nun lag er hier um das alte Holzrad gewickelt untätig herum, in wachsender Finsternis, denn eine Rosenhecke überwucherte immer dichter zuerst die Fenster und dann alle Wände.
Und auch, als dieser junge Mann, der auch so ein Krönchen trug, das schlafende Mädchen wieder zum Leben erweckt hatte, geschah erst einmal gar nichts – doch plötzlich erhob sich geschäftige Betriebsamkeit, die fleißige Hand einer Magd wickelte ihn vom Rad auf eine Spule und trug ihn in einen großen hellen Raum, wo er auf viele Brüder in unterschiedlichsten Gestalten und Verwandlungen traf. Manche schimmerten strahlendweiß wie er selbst, aber viele leuchteten, glänzten und funkelten auch in allen Farben des Regenbogens (so einen hatte er mal am Himmel gesehen, damals, in seiner glücklichsten Zeit auf dem Flachsfeld), die einen waren wie er auf Spulen gewickelt, doch andere marschierten in Reih und Glied nebeneinander von einem großen Holzgestell herunter, während ein einzelner Kumpel in einem kleinen Boot auf verschiedenen Wegen – mal drüber, mal drunter, mal herum geschlungen – flink zwischen den exakten Marschkolonnen umher flitzte und so verschiedene wunderbare Muster hervorbrachte, die auf dem unten herauslaufenden großen Stück aus vielen, vielen Fäden erst so richtig zu erkennen waren, und dabei rumpelte das Gestell unter den Händen der daran arbeitenden kräftigen Frau gewaltig. Woanders saßen andere Frauen mit solchen Stücken aus Fadengemenge und zogen weitere bunte Brüder mithilfe eines kleinen Metallstiftes einzeln hindurch, andere klapperten mit einzelnen Stäben, um die dickere Fäden geschlungen waren, und eine Fläche aus fantasievollen Verknotungen wuchs unter ihren Händen hervor, wieder andere steckten kleine Metallstifte in einem Muster auf eine große Rolle und wanden Fäden, an deren Enden Holzstückchen befestigt waren, so geschickt darum, dass unten allmählich ein hauchzartes Gebilde herausglitt – und was der mysteriösen Tätigkeiten noch alle waren!
Und zwischen all dem Geschwätz der arbeitenden Frauen (da klang überall das geheimnisvolle Wort „Hochzeit“ auf) hörte der Faden es rascheln, knistern, sirren, rauschen … das war der Gesang seiner fröhlichen Brüder und Freunde (denn es waren auch welche dabei, die aus fernen Ländern gekommen waren und zum Beispiel auf Tieren gewachsen und nicht wie er auf dem Felde), die sich freuten, nützlich zu sein und dadurch noch schöner zu werden, als sie ohnehin schon waren.
O ja, das wollte er auch, das hatte auch er sich immer gewünscht: nützlich zu sein und gerade dadurch schön! Das wäre das große, lang ersehnte Glück! Und er harrte ungeduldig seines weiteren Schicksals.
Wie es mit dem Faden weiterging? Ob auch er Seite an Seite mit anderen durch die großen Maschine marschierte, ob er durch das winzige Löchlein eines kleines Metallstiftes und mit ihm zusammen durch miteinander verknüpfte Kameraden hin und her, auf und ab sauste oder um kleine Stifte oder größere Stäbe wirbelte, bis aus ihm ein neues Wunderwerk hervorgegangen war? Und ob er in ihren Gesang einstimmte? Träume weiter, wer es vermag …
LINDA, 2011