Da es inzwischen zu meinen besonderen Marotten gehört, meines Erachtens inhaltlich analoge literarische Texte mehr oder weniger passend als unvermeidliche Stolpersteine in den unaufhaltsamen Ablauf der Laudatio einzufügen, bin ich wiederum erfolgreich auf Jagd gewesen, und diesmal ist es sogar etwas ganz Besonderes. Der Autor dieser lakonischen Lyrik um unsere alltäglichen Befindlichkeiten ist nämlich eine unerwartete Überraschung – deshalb wird er auch erst am Ende meines Vortrags verraten. (Als Quelle diente übrigens die jüngste Ausgabe des „Magazins“.)
Text 1 – von mir an die Ausstellerinnen gerichtet:
Wenn man morgens aufsteht
In dieser unserer Welt,
Geht man das Risiko ein,
Dass man einen hat, der lügt,
Und einen, der falsch beschreibt,
Was man macht.
Text 2, leicht gekürzt – über das, was ich jetzt vorhabe:
Man hat mich über die Sache da informiert,
….
Ich bin sie noch nicht durchgegangen.
Sie ist interessant.
Lassen Sie mich versuchen, sie in einen Kontext zu bringen,
Und dann schau ich, ob ich sie beantworten kann.
Ich habe keine Ahnung, worum es geht.
Ich sehe, das scheint Sie nicht zu entmutigen; also komme ich wohl nicht darum herum, weiterzumachen. Gut – aber ab sofort auf Ihre Gefahr! Und zur Sicherheit wie immer erst mal ganz ernsthaft.
Junge Hallenser Künstlerinnen in Erfurter Galerien – das könnte eine Tradition werden, an die wir uns gern gewöhnen – wenn denn ein Hauch von Burg-Geist aus Sachsen-Anhalt dabei nach Thüringen herüberweht.
Und warum sollte diese Geisterbeschwörung, die vor über drei Jahren mit Papier und Textil von Josefine Cyranka und Katrin Röder im Kulturhof Krönbacken erfolgreich zur Verzauberung des geneigten Publikums führte, nicht auch bei Malerei und Keramik von Christiane Jung und Judith Runge funktionieren?
Der Burg-Geist von Halle an der Saale ist bekanntlich mit der Macht einer Magie ausgestattet, die inzwischen weltweit wirksam ist – und irgendwie offenbar auch die beiden Burg-Absolventinnen zu diesem gemeinsamen Projekt zueinander geführt hat. Da war doch auf einmal so irgendein geheimnisvoller Draht zueinander – an dem möglicherweise durchaus der mysteriöse Burg-Geist ein bisschen gedreht hatte …
Es hätten nämlich, wäre alles mit rechten Dingen zugegangen, ihre Wege eigentlich eher weit auseinander gehen müssen, trotz einiger Schnittstellen, als da sind eine – wenn auch nicht zeitgleiche – Ausbildung und Berufspraxis im Design, die möglicherweise die Formsprache disziplieren könnten, der sie aber beide immer wieder entfliehen – hinein in die Spielräume der sogenannten freien Künste mit ihren wieder ganz eigenen Gesetzen – und die doch spätestens dann wieder auf den Plan tritt, wenn es um die eben auch funktionale Aufgabe des ersten gemeinsamen Ausstellungskonzepts geht.
Und da steht die Frage im noch leeren Ausstellungsraum: Wie kriegen wir nachdenklich-naturbezogene Keramik mit expressiv-heiterer Malerei unter einen Hut, ohne dass es dem die Krempe sprengt?
Auf den ersten Blick scheint es da nämlich eigentlich überhaupt nichts Verbindendes zu geben.
Christine Jung hat eine klare und konsequente Gestaltungslinie entwickelt, die ihre Grundidee aus einer ganz besonderen Art bezieht, die Welt zu betrachten.
Ob Stilleben aus ihren alltäglichen Arbeitsutensilien zwischen Kunst und Küche, Interieurs, bevorzugt mit skurril gegliederten Stühlen und Fenstergittern, oder die bizarren Skelette von Abrissarchitektur – ihr exzessiv Leinwände oder rauhe Pappen durchpflügender Pinsel lässt Texturen wachsen, die aus – spröden, rissigen, im kapriziösen Rhythmus von Synkopen durch den Bildraum tanzenden Linien zu einer eigensinnig-leidenschaftlichen Schrift zueinandergefügt – wie wild wirbelnde Gedanken die sinnlich lastenden, doch auch intensiv leuchtenden Farbmassen umkreisen, konturieren, gliedern – gewebeartig gebunden, gitterartig gerastert – und doch auch konterkarieren im unendlich unentschiedenen heftigen Turnier Linie gegen Fläche.
Diese bildnerischen Vorgänge spiegeln nicht nur tägliche Lebenswirklichkeit, sie inspirieren, motivieren, prägen, tragen die ständigen Auseinandersetzungen der Künstlerin mit sich selbst und der sie umgebenden Realität wie auch mit den fiktiven Welten ihrer Fantasie. In einem Tagebuch hält sie fest:
… Manchmal jagen sich die Gedanken, drehen sich immer im Kreis herum, so schnell, dass der Gegenstand, woran sich einer von ihnen festhalten will, immer schneller vorbeisaust. … Du drehst dich immer schneller und schneller und hast nur die eine Hoffnung: wie ein Propeller abheben, um da oben , etwas höher, endlich zur Ruhe zu kommen … Wo du vorher keine einzige Chance hattest, da hast du jetzt alle.
… Mich inspirieren nicht nur andere Kunstgattungen wie Musik und Literatur, oft passiert beim Malen noch einmal eine Verdichtung vom im Alltag Erlebten. Ich führe darüber unentwegte Selbstgespräche und Dialoge mit fiktiven Personen, mit denen ich etwas noch nicht zuende Gedachtes klären will, etwas was vor dem Versinken in die Vergangenheit erst noch durch meinen Filter muss.
Es sind Geschichten, was ich erlebe beim Malen. In ihnen kommt es zum Streit, zur Ignoranz, zu Spott und Zynismus auch gegen mich selbst. Das alles hat dann am Ende also nicht etwa zu einer erhellenden Lösung geführt oder gar mehr Übersicht in einen Vorgang banaler Alltäglichkeit gebracht, vielmehr hat es Gestalt angenommen, ist visualisiert worden.
Die Künstlerin steht im Fluss dieser Vorgänge und erfasst momentane Situationen, ohne den Fluss in seiner Gesamtheit steuern oder gar aufhalten zu können und zu wollen. Daher oszillieren die Resultate dieser Sysiphus-Arbeit zwischen blitzartigen Déjavu-Erkenntnissen von erfahrener konkreter Gegenständlichkeit und geahnter symbolischer Zeichenhaftigkeit, etwa zwischen sachlich-satirischem Stuhlporträt und exotisch-expressiver Tuscheschrift, dynamisch-dekorativem Wohninterieur und dramatischer grafischer Geste. Und die scheinbar ordnend über die Farbschichten gelegten Liniennetze steigern in Wahrheit die Verunsicherung des Rezipienten durch Freilegung neuer, doch vage, kryptisch bleibender Sinnebenen, die die Fantasie des Betrachters gnadenlos herausfordern.
Auch die Bildtitel geben oft nur verschlüsselte Hinweise und lassen daher eigene Deutungsoptionen zu:
„Stadtbilder“ – „Entkernt“, „Abgestellt“, „Unbrauchbar“, „Weggeworfen“ – „Wo ich wäre“, „wenn ich könnte“ – formuliert Sehnsüchte nach einer Traumstadt, die Mykonos mit Magdeburg verschmilzt, die morbiden Reize anhaltinischer Abbrucharchitektur mit dem kultivierten Formenkanon antiker Ästhetik – und durch die Symbiose von Vergänglichkeit und Gegenwärtigkeit prophetische Sichten eröffnet auf eine Welt des Künftigen, das wir zu verantworten haben.
Dieser nachdenkliche Blick in auch abgründige Tiefen verbindet sich erstaunlich selbstverständlich mit lichtvoller, frisch, frech und unfromm kolorierter Heiterkeit, die gelegentlich auch zu boshafter Ironie aufläuft, und mit einem ausgesprochen lustvollen Vergnügen am Spiel mit Farben und Formen.
Und beides – das satirische Augenzwinkern auf der einen Seite und dieses starke Verantwortungsgefühl und eine kompromisslose Engagement für die Dinge des Lebens und gegen deren Gefährdung und Verlust auf der anderen – schlägt den Bogen von der Malerei der Christiane Jung zur Keramik von Judith Runge.
Höchstes handwerkliches Können ist Voraussetzung für deren konsequentes Programm: Doch die harmlose Heiterkeit, die zu unterseeischen oder außerirdischen Monstern mutierte Montagen aus friedlichem Frühstücksgemüse zunächst auszustrahlen scheinen, kann dem zweiten Blick nicht standhalten, der unser eigenes potentielles Schicksal unter dem Regiment der Genmanipulatoren schreckensvoll erahnen lässt, und sie macht wechselnd an- und abschwellenden Wellen einer Gänsehaut Platz, die sukzessive die Seele zu überziehen beginnt.
Wie eine machtvolle Woge überrollt uns mauerhoch die Mystik der Mutanten mit der grauenerregenden Ästhetik glatter Perfektion selbst noch in der Widerborstigkeit stachliger, Berührungen abweisender Häute, die offensichtlich doch nur noch seelenlos erstarrte, tote, farblose Hüllen sind – letztlich auch überwältigend durch die Unaufhaltsamkeit ihrer unendlichen Reproduzierbarkeit.
Und die unheimlichen Surprisen des Mikro- und des Makrokosmos – pars pro toto, die kleine metallene Schatzkästchen wie aus Blaubarts Gruselschloss nach ihrer Öffnung dem allzu Neugierigen preisgeben, spielen mit Hitchcock-Effekten, denn ihre wahre Wesenheit behalten sie zurück im mysteriösen Grabdunkel der Behältnisse – Beginn einer Reise in das alltägliche Entsetzen, die innere Nacht der eigenen schaurig-schönen Alpträume, bei der uns allmählich die Kontrolle über Weg und Ziel entgleitet.
Einer davon entwickelt die Vision, dass Kinder, Menschenschicksale, künftig als Serienprodukte in verschiedenen Güte- und Preisklassen vom Homunculus bis zum Golem aus dem Kaufhausregal zu entnehmen sein könnten, im Blind Date zu erwerben und ebenso unfassbar und unerkennbar und gefährlich wie die berüchtigte Katze im Sack – als totaler und endgültiger Sieg des rein marktorientierten Effektivismus der Ökonomie über die Humanität?
Heillose Verstrickung – unentrinnbares Labyrinth der Mythen und Mysterien?
Und doch scheinen sich all diese magischen Artefakte ihrer Decodierung und damit der Erlösung aus der Verzauberung einer puren Formenwelt zu nähern: Schriftzeichen erscheinen an der Wand.
Eine archaische Ansprache hebt an – mit dem Charme von Kampfgeräten aus dem Kindergarten der Klingonen oder der keltischen Kultkammer als Trophäen von einem Trip nach Stonehenge (was ohnehin wenig Unterschied macht) – und doch einfach auch eine Formenkomposition wie spontan aus der Situation heraus – von kühler, strenger, zugleich subtil-fragiler wie aggressiv-militanter Schönheit sowohl im einzelnen als auch in der Gesamtheit ihrer bewusst aufeinander bezogenen einmaligen Zuordnung.
Wie würde sie wohl klingen, diese Rede? Was soll sie uns sagen? Ist vielleicht die Weltformel endlich gefunden und formuliert?
Ist es die mahnende Flammenschrift an der Wand: Mene-Menetekel Babylon?
Oder würde dieser Text passen:
Der Flügelflagel gaustert durchs Wiruwaruwolz,
Die rote Fingur plaustert, und grausig gutzt der Golz.
Alles falsch; es soll schlicht heißen (aber vielleicht ist das ja eigentlich die Weltformel): „KAUFT MEHR KUNST!“
Hie Farbe, dort Ton, hie Malerin, dort Keramikerin – ihre Gedanken und Gefühle, all ihre Sinne umkreisen in der wahlverwandten Symbiose dieser Ausstellung die Dinge des Lebens, mittels derer wir unseren Alltag zu beherrschen vermeinen und die doch eigentlich selbst unseren Alltag beherrschen und längst unsere Lebensprozesse formen: Gegenstände und wie Gegenstände betrachtete und behandelte Lebewesen, von Menschen zielgerichtet für konkrete Gebrauchszwecke geschaffen und gestaltet oder gezogen und gezüchtet, gewinnen durch die magischen Metamorphosen bildnerischer Modifizierung eine neues geheimnisvolles Leben in dem unermesslichen Raum, in dem die Fantasie des Künstlers der des Betrachters begegnet.
Und uns, den Betrachtern, überlassen beide Künstlerinnen in hintergründiger Absicht die Entscheidung, ob der Alp- über den Wunschtraum Oberhand gewinnt – Bilder und Keramiken bewegen sich bewusst zwischen diesen Alternativen, die in Wahrheit an fließenden Grenzen ineinander übergehen, so wie im Leben Heiterkeit und Horror, Schönheit und Schauder, Verzückung und Verzweiflung einander berühren und begründen.
Aber all das können Sie auch ganz gut ohne mich herausfinden – vielleicht sogar besser.
Deshalb noch eine letzter Text des geheimnisvollen unbekannten Autors vom Beginn meines Monologs, bevor ich sein wirklich sensationelles Inkognito lüfte:
Alles was ich sage,
Das ich nicht hätte sagen sollen,
Hab ich nie gesagt.
Ich möchte, dass Sie das verstehen,
Sofort, als erstes.
Und nun die Überraschung: Diese so wunderbar kunstsinnigen und laudatiogerechten lyrischen Auslassungen sind Äußerungen aus Interviews, Pressekonferenzen und aus einer Lagebesprechung, getan 2001 und 2002 vom amerikanischen Verteidigungsminister Donald Rumsfield.
Womit bewiesen wäre: Poesie steckt in jedem Atom unseres Alltags, es ist an uns, sie – mit oder manchmal leider auch ohne Hilfe von Kunst und Künstlern – zu entdecken und gewissermaßen generalstabsmäßig zu erobern.
Für die Folgen übernehme ich allerdings dann keine Haftung mehr, denn – wie der Dichter Rumsfeld spricht:
Alles was ich sage,
Das ich nicht hätte sagen sollen,
Hab ich nie gesagt.
Und alles, was ich also ab jetzt nicht mehr sage, kann auch nicht gegen mich verwendet werden.
Ab sofort ist also Selber-Sehen angesagt.
Ich möchte, dass Sie das verstehen!
Erfurt, 27. August 2003 | Dr. Jutta Lindemann