Eigentlich ist es nicht ihr Beruf, wohl aber ihre Berufung: Mit Linien und Farben in jeder freien Minute auf dem Papier zu fixieren, was sie ständig innerlich bewegt und äußerlich berührt. Und das ist so, seit sie denken und fühlen kann, und in Worte fassen kann sie weder das Woher und Warum noch das Wohin und Wozu. Aber sie weiß, dass sie sich täglich darin ausdrücken muss, dass Malen und Zeichnen unverzichtbarer Teil ihres Lebens ist. Dr. med. Carmen Lewin-Stern, 1945 geboren in Misdroy, nach dem Medizinstudium in Leipzig und Erfurt über viele Jahre hinweg in Erfurt als Fachärztin für Innere Medizin tätig und inzwischen im wohlverdienten Ruhestand – ist zwar als Künstlerin Autodidaktin, jedoch langjährig in die Kunstszene der Stadt integriert, seit 1991 Mitglied im Verband Bildender Künstler Thüringen e. V. und aktiv mit Ausstellungen und Ausstellungsbeteiligungen in Erfurt und darüber hinaus präsent. Beeindruckt und inspiriert von ihrem früh verstorbenen Vater, einem realistischen Landschaftsmaler, wurde ihr Leben von Beginn an durch eine bildnerische Weltsicht und die Sehnsucht, selbst künstlerisch tätig zu werden, begleitet. Doch der große Respekt vor der Perfektion des Malervaters lenkte ihr Tun in eine genau entgegengesetzte Richtung: Sie wollte sich frei halten vom Zwang der Ab- und Nachbildung des Gesehenen, dem sie nicht gerecht zu werden fürchtete, wollte statt dessen die Freiheit des experimentellen Spiels mit Linie, Formen, Farben, die zugleich auch eine Befreiung von den Zwängen des Alltags und sogar seine Heilung bedeuten kann – wenn auch nur für die Zeit, während der sie kompromisslos im Bildermachen versinkt. Wichtige Anregungen holte sie sich daher zuerst in Zeichenzirkeln, die ihr das Handwerkszeug vermitteln konnten, aber auch die benötigten Spielräume öffneten, z. B. bei Gerd Uhlmann und Egon Zimpel, aber natürlich stehen daneben auch immer wieder Impulse aus der gesamten Kunstwelt, oft aber auch durch architektonische Strukturen, die sie immer wieder festhält eigenwillig bildnerisch interpretiert. 1988/89 etwa, in einer Zeit grundlegender Wandlungen auch in dieser Stadt, begab sie sich mit dem Fotoapparat auf Spurensuche, fasziniert und zugleich betroffen von der verfallenden Altbausubstanz etwa im Andreasviertel. Daneben entstanden schroffe zeichnerische Bestandsaufnahmen; an den Seiten großformatiger Leporellobücher entlang konnten wir danach neben ihr durch alptraumartiger Gassen und Straßenschluchten wandern – ich erinnere an Carmen-Lewin Sterns Ausstellung im Kulturhof Krönbacken 2009 „Zuhause und Anderswo“.
Da sind es dann auch die Erlebnisse anderer Städte in der Welt, die ihren Erfahrungen und Anregungen neue hinzufügen und ihren Blick in die Welt hinein weiten – und auch die Fülle von informationsbeladenen Zeichen unterschiedlichster Provenienz, die unsere Sinne unentwegt überrollen, unsere Gedanken und Gefühle permanent provozieren – aus der alltäglichen Dingwelt und immer wieder ganz speziell aus der Welt der Werbung, die unaufhörlichen Attacken mit Worttiraden, auf Slogans reduzierten direkten oder unterschwelligen Appellen an unsere alltäglichen und geheimen Gelüste, verführerisch kostümiert mit der schillernden Ambivalenz einer der genialsten Erfindungen der Menschheit: der Schrift – zusammengesetzt aus ästhetisch ausgefeilten grafischen Ornamenten mit unermesslichem Variantenreichtum und zugleich folgenreicher Bedeutungsträger von pfeilschneller inhaltlicher Schlagkraft.
In Carmen Lewin-Sterns Collagen sind zumeist Wortfragmente Ausgangspunkt für die eher sporadisch-anarchisch als plan- und absichtsvoll sich in einem Bildraum zusammenrottenden Textur- und Farbbruchstücke – Überreste aus früheren Bilderleben, gesucht, gefunden und bewahrt vorrangig ihrer optischen Reize wegen, seltener aus inhaltlichen Ambitionen, und auch nicht nach irgendwelchen Systemen geordnet. Dann aber läuft alles mit der unaufhaltsamen Rasanz eines spontanen Facebookmeetings ab, fast wie im Rausch und auch im Nachhinein nicht rational erklärbar, jedenfalls nicht wirklich: Oft beginnt es auf grauen Fotofonds mit kleinen Elementen in den Lieblingsfarben Gelb, dann Rot und Blau, und sie bilden am Ende dann auch wieder die Klammer der traumwandlerisch sicheren Komposition. Harmonie wächst nur allmählich im Prozess heftiger Kämpfe zwischen den Kontrasten, ist aber immer Ziel und Ergebnis, wenngleich nicht eine aus malerischen Tonmodulationen leicht zu gewinnende sanfte Gleichförmigkeit, sondern eher ein Waffenstillstand der hart erstrittenen Kompromisse, lebendig und offen für alles, was noch kommen mag. Die härteste Entscheidung in diesem Prozess ständiger, nicht korrigierbarer Entscheidungen ist die über den Zeitpunkt des Endes. Texturierendes Zeichnen hier und da kann später zu hart erscheinende Brüche nur noch etwas mildern oder durch neue Akzente von ihnen ablenken – rückgängig machen lässt sich nichts. Nie existiert ein formulierbares Konzept, aber wenn dann alles so richtig in Fahrt gekommen ist, gibt es ohnehin kein Halten mehr: Es siegt eine mental getragene Eigendynamik, die nicht mehr intellektuell zu fassen und zu steuern ist. Zögern und Grübeln ist dann nicht mehr drin, es wird auch nicht abwägend ausgelegt und wieder und wieder ausgetauscht oder verschoben, sondern fast immer sofort unwiderruflich fixiert. Was einmal den Bildraum betreten hat, findet zielsicher seinen Platz und behauptet ihn fortan, was neu hinzu kommt, gesellt sich den Alteingesessenen familiär bei oder stellt sich ihnen in ewiger Fehde entgegen – und gerade das macht den Spaß daran aus und könnte ein Lebensmodell sein, denn alles bleibt doch spielerisch und fügt sich letztlich in eine höhere Ordnung. Und es ist zu guter Letzt der selektive und subjektive Blickwinkel jeder Künstlerpersönlichkeit, der den Glauben an die Macht des Zufalls dann doch noch – zumindest ein wenig – ins Wanken bringt.
Die Deutungsambivalenz der Farb-, Form- und Textbruchstücke und ihre mehr oder weniger zufällige Vernetzung öffnen dem Betrachter einen unendlichen Assoziationsspielraum, der bei mehrmaligen Betrachten immer wieder neue Fenster und Türen in weitere Denkräume frei gibt, zuweilen sogar hinein in noch Ungewusstes aus den Untiefen weit hinaus über die Grenzen.
In nahezu labyrinthische Verwicklungen hinein werden diese Spielräume getrieben, wenn die Bildflächen selbst Räume bilden, die auf unterschiedliche Weise miteinander in Beziehung gesetzt werden: Leporellos, noch dazu mit Durchbrüchen, erweitern und bereichern das Beziehungs- und Assoziationsgeflecht, was durch Spiegelungen noch gesteigert werden kann.
Und doch bleibt der stärkste Motor unseres beim Betrachten und Entdecken in Gang gesetzten Denk-, Fühl- und Traumapparates das eigene Erinnerungs- und Vorstellungsvermögen, unsere Phantasie.
In eine bestimmte Richtung treiben diese zunächst die Miniaturen des Mail-Art-Projektes, die u. a. auf einer Sammlung internationaler Antwortkarten auf ein Preisausschreiben basieren. Briefmarken und Stempel aus aller Welt und das leicht ironische Bild- und Textspiel der Künstlerin drum herum wecken mit Wucht das Fernweh und kanalisieren die Assoziationsströme. Und die verborgenen Rückseiten bewahren zugleich das Geheimnis bereits gelebter Schicksale … Da sind aber auch ganz frei entwickelte eigene Postkartengrüße, gespeist aus dem Chaos des alltäglichen Medientsunami, angereichert mit raren Kostbarkeiten, die gelegentlich die Affinität der Künstlerin zu historischen Texten, bevorzugt der Barockzeit, einer Zeit der besonders intensiven Auseinandersetzung mit der Vanitas, der Wandelbarkeit und Vergänglichkeit alles Irdischen, verraten. Gedichten etwa von Paul Fleming, Martin Opitz und Andreas Gryphius aus dem 17. Jahrhundert stellt sie zudem gelegentlich auch eigene Blätter korrespondierend zur Seite. Wie die Collagen bekräftigen sie ein nachdenkliches Verhältnis zum Phänomen Zeit, das die Menschen seit Jahrhunderten doch immer wieder auf gleiche Weise ratlos lässt.
Ihr lebet in der Zeit/ und kennt doch keine Zeit/
So wißt ihr Menschen nicht/ von und in was ihr seyd. …
Der Mensch ist in der Zeit/ sie ist in ihm ingleichen.
Doch aber muss der Mensch/wenn sie noch bleibet/ weichen. …
Ach daß doch jene Zeit/ die ohne Zeit ist kähme/
Und uns aus dieser Zeit in ihre Zeiten nähme.
(Paul Fleming „Gedancken/ über der Zeit“, aus: „Poetische Wälder“)
Mein sind die Jahre nicht/ die mir die Zeit genommen/
Mein sind die Jahre nicht/ die etwa möchten kommen./
Der Augenblick ist mein/ und nehm ich den nicht acht/
So ist der mein/ der Jahr und Ewigkeit gemacht.
(Andreas Gryphius „Betrachtung der Zeit“)
Aber auch der österreichische Altmeister des Skurrilen Ernst Jandl kommt mir unvermeidlich in den Sinn mit seinen kristallscharf geschliffenen, vieldeutig funkelnden Wortspieltexten, „Herz- und Handgefährte“, wie sie es nannte, der mindestens ebenso sprachmutigen und experimentell ausdrucksstarken Dichterin Friederike Mayröcker. Und auch wenn Jandl meinte, dass das „Gedicht die Rache der Sprache“ sei, möchte ich auch etwas Mayröckersches neben diese Bilder stellen, das in Worten wie Bildzeichen und mit ähnlichem strukturellen Herangehen eine vergleichbare künstlerische Weltsicht formuliert:
was brauchst du? einen Baum ein Haus zu
ermessen wie groß wie klein das Leben als Mensch
wie groß wie klein wenn du aufblickst zur Krone
dich verlierst in grüner üppiger Schönheit
wie groß wie klein bedenkst du wie kurz
dein Leben vergleichst du es mit dem Leben der Bäume
du brauchst einen Baum du brauchst ein Haus
keines für dich allein nur einen Winkel ein Dach
zu sitzen zu denken zu schlafen zu träumen
zu schreiben zu schweigen zu sehen den Freund
die Gestirne das Gras die Blume den Himmel
Bei Sigmund Freud oder Karl Gustav Jung kennt sich die Ärztin neben der Künstlerin vermutlich viel besser aus als ich, und ob ihr künstlerisches Tun auch eine Art Gestalttherapie am eigenen Leibe bzw. an eigener Seele ist, soll (wenn wir schon einmal bei den Geheimnissen sind) das ihre bleiben.
Vor allem anderen geht es um Kunst, und dafür steht die bildnerische Formulierung unter ästhetischen Kriterien als wichtigstes Argument, z. B. für eine freie informelle Wiedergabe innerer Bewegtheit, die sich Bahn brechen muss. Zuweilen wachsen daraus mittels Pinsel und Farbe auch nahezu von selbst ganze Zeichenteppiche, deren Dichte (Aufhören-Können ist auch hier die hohe Schule!) letztlich auch über die Wertigkeit, Deutung und Vieldeutigkeit jeder Einzelform entscheidet und ein grundlegendes und sicheres Gespür für Spannung mittels Textur, Ordnung und Rhythmus voraussetzt, denn hier kann nicht bedacht konstruiert werden, ohne den typischen Charakter des spontanen Spiels zwischen Intuition und Intellekt zu verlieren. Dafür steht in dieser Ausstellung allerdings nur ein Beispiel. Da entwickeln sich aus scheinbar einfachen Bildgeschichten unversehens bizarre Gedankenlabyrinthe mit mehreren Ein- und Ausgängen, in denen skurrile Figurationen agieren, die in Gestalt und Wesen offen und flexibel bleiben wie die mysteriösen Formwandler in Science-Fiction-Filmen. Sie auszuformulieren und die wie Spielsteine hingeworfenen Geschichtenfragmente in unterschiedlichste Richtungen weiterzuspinnen, überlässt die Künstlerin mit Augenzwinkern dem Betrachter. Wesenheiten unvorstellbarer Beschaffenheit wirbeln durcheinander, tanzen umeinander über die Bildfläche, bedrängen einander auch zuweilen und fordern unsere Fantasie heraus wie die Erinnerungsfetzen eines wilden Traumes, aus dem wir eben erwacht sind und den wir doch schon wieder zu verlieren drohen. Nur Kunst kann die Brücke zu diesen Welten dauerhaft bauen.
Das aber wäre schon wieder eine neue Ausstellung! Neugierig geworden?
Henrik Ibsen bringt es im „Traumspiel“ auf den Punkt:
Alles kann geschehen, alles ist möglich und wahrscheinlich.
Raum und Zeit existieren nicht. Auf einem unbedeutenden wirklichen Grunde spinnt die Einbildung weiter und webt neue Muster.
Erfurt, 30.10.2008 und 02.06.2013 | Dr. Jutta Lindemann