Die vielfältigen Ambivalenzen des Themenfeldes offenbart bewusst krass bereits die Gestaltung der Räume in ihrer offensiven Konfrontation nicht nur der drei Lebens- und Erlebnis-Sphären, die hier aufeinander treffen, sondern darüber hinaus auch der sehr unterschiedlichen Handschriften von drei sehr unterschiedlichen Künstlern, die doch von verwandten Inhalten motiviert und inspiriert wurden. HR Giger, Horst Janssen und Renate Wandel verbindet bei aller Gegensätzlichkeit ihrer Konzepte und Handschriften mehr als nur die nicht ganz zufällige, durch den Kurator Jürgen Lindhorst wesentlich initiierte persönliche Bekanntschaft, gegenseitige Hochachtung und gelegentliche Zusammenarbeit. Vor allem ist es ein Faible für die Abgründe menschlicher Erfahrung und Erlebnisfähigkeit in allen Extremen zwischen höchster Lust und tiefstem Schmerz, wie sie durch Himmel und Hölle symbolisiert werden und in der Erotik miteinander verschmelzen. Das war wohl äußerer Anlass und innerer Beweggrund für Jürgen Lindhorst vom Kulturmanagement CreConCert Bad Hersfeld und die selbst beteiligte Berliner Malerin und Galeristin Renate Wandel, diese Exposition für diese Räume genau so explizit kontrastreich zu konzipieren, wie sie nun mit suggestiver Macht über uns hereinbricht.
Einer der Protagonisten ist HR – genauer gesagt Hans Ruedi – GIGER aus der oberflächlich betrachtet so beschaulichen Schweiz, ein meist freundlich dreinschauender Herr Jahrgang 1940 mit gemütlichen Rundungen – ein Orson Welles der Bildkunst, der seinen Kater und offensichtlich auch gutes Essen und überhaupt das diesseitige Leben mit all seinen Genüssen im fast Baalschen Sinne liebt, wahrscheinlich inclusive besonders des berühmten Käses aus Gruyère, wo er 1988 im von ihm ersteigerten Schloss St. Germain ein eigenes Museum eröffnete, rund 10 Jahre nachdem er für sein Filmdesign zum US-Kultfilm „Alien“ des Regisseurs Ridley Scott einen Oscar erhalten hatte. Hinter der Lebemann-Fassade, die er sicherlich genüßlich kultiviert, verbirgt sich in Wirklichkeit ein Universum abgründiger Phantasien.
Der New-Yorker Leslie Barany schreibt nach seiner ersten Begegnung mit Giger am 7. Januar 2002:
„Es besteht eine andere, beunruhigendere Möglichkeit, dass diese Bilder nicht Fenster sind (aus unserer Welt zur anderen Seite), sondern Spiegel, welche die harsche Wirklichkeit unserer eigenen Welt und unserer Leben zurückwerfen: Manifestationen der Böswilligkeit, der die Menschheit noch immer gegenübersteht, die dräuenden Wolken nahender Dunkelheit, die Beharrlichkeit eines alten Urgesteins der Schlechtigkeit außerhalb der Einschränkungen der Zivilisation.
Giger, auch nur ein Mensch, aber kühn und wissbegierig, hat die Tür einen Spalt weit aufgebrochen, um einen Blick dahinter zu erhaschen. Indem er das, was er sah, zu Papier brachte, herausgeschleudert in einem Wirbelwind von Farbpigmenten aus der Spitze seiner Spritzpistole, hat er unabsichtlich eine neue Macht in der Welt freigesetzt. Ich frage mich, ob er den Schauer auch gespürt hat, als sie an ihm vorbeirauschte, genau wie ich damals und jetzt auch noch.“
Nach einem Studium Architektur und Industriedesign in Zürich, wo HR Giger noch heute in einer selbstgeschaffenen Wohnwelt lebt, die sein über Jahrzehnte gewachsenes Kunstkonzept bis ins letzte Detail komplex widerspiegelt, schuf er bereits um 1964 er seine ersten Werke, hauptsächlich in Tusche und Öl, die 1966 zu seiner ersten Einzelausstellung in Zürich führten. Bald entdeckte er für sich die Spritzpistole, fand zu dem ihm eigenen freien Stil und schuf seine weltweit bekannten Werke – die Biomechanischen Traumlandschaften – die seinen Ruhm begründeten. Gigers Werk kann dem Suuealismus zugerechnet werden; im Vergleich zu dem berühmtesten Vertreter dieser Stilrichtung, Salvador Dali, wird deutlich, wie anders der Blickwinkel Gigers auf die Welt ist. Einflüsse des Phantastischen Realismus leiten sich auch durch die Freundschaft zu Vertretern der Wiener Schule des Phantastischen Realismus wie Ernst Fuchs her. Wiederkehrendes Thema seiner Werke ist der von ihm geprägte Begriff der Biomechanoiden, der im Lebendigen primär das Mechanische betont und im Zusammenspiel mit sexuellen Andeutungen auf den Betrachter oft verstörend bis makaber wirkt. Soweit informiert die Online-Enzyklopädie Wikipedia – doch mit nüchternen Fakten ist dem Phänomen Giger nicht annähernd beizukommen.
Der inzwischen mit Covergrafik, Filmdesign für Hollywood, Raumausstattungen für diverse Giger-Bars wie auch ein durch umfangreiches bildnerisches Werk international bekannt gewordene Künstler, der seit den 90er Jahren nur noch an skulpturalen Objekten arbeitet, wird immer wieder als ein Ausnahmekünstler bezeichnet, der mit seinen Werken „wie kein anderer, in die schmerzlichen Schichten des menschlichen Seins eindringt“, so eine internationale Fachzeitschrift, und an dem sich die Geister in glühende Verehrer und vehemente Verächter scheiden und die Fachwelt immer wieder aufreibt.
Die Ausstellung „Ambivalenzen – Himmlisch-Erotisch-Diabolisch“ präsentiert eine Auswahl, die sich auf charakteristische druckgrafische Editionen konzentriert: 17 z. T. zweifarbige in lithografischer Manier entstandene Zinkdrucke des Zyklus „Ein Fressen für den Psychiater“ – pünktlich zum Millenniumswechsel 2000 vom Verlag Museum HR Giger editiert – als Ergänzung der Erstauflage von 1965 – sowie die bekannten Arbeiten „Birthmachine“, „Under The Earth“ und „Atomic Children“ als limitierte Eloxaldrucke auf Aluminium-Platten, einige Farblithografien und sechs Siebdrucke aus Gigers Mappe „Erotomechanics“, erste Serie aus einer handsignierten 300er Auflage, angeregt durch die kurze, aber offensichtlich intensive Ehe mit seiner zweiten Frau Mia. Darüber hinaus spannt sich der Bogen von kleinen, spontan entstandenen und fast untypisch anmutenden Kaltnadelblättern, durch Renate Wandel während einer gemeinsamen Aktion angeregt und gedruckt, bis zu einem blutrot leuchtenden Gießharz-Wandrelief aus der Raumgestaltung einer der Giger-Bars von seinem Geburtsort Chur bis nach New York, auf dem elektronische Makrostrukturen sich archaischen Reptilskeletten wie selbstverständlich zu einem symmetrischen, rhythmisch komponierten Texturgefüge anverwandeln.
Schwer in Worte zu fassen sind die Wirkungen, die von den Siebdrucken und ihren biomechanischen Figurationen irgendwo zwischen Mensch, Reptil, Maschine und Microchip, zwischen Industriearchitektur, Skelettsystem und Innereien, Metall und Haut ausgehen, von den ausgeprägt muskulösen, glatt und kalt schimmernden Formen, die sich – aus abgrundtiefen Schatten herausgleitend – umeinander und ineinanderbewegen – in martialischen Begegnungen, die ihr Ziel in einer brachialen Verschmelzung von Liebe, Gewalt und Tod finden und in denen sich gigantischer Schmerz mit maßloser Lust zwanghaft zu verbinden scheint. Stahlseile spannen sich über Gewürm und Gedärm gleichenden Tunnelröhren wie Geäder sich über pulsierende Glieder zieht – Schenkel, Schlangenleib oder Penis. Kuppeln wölben sich als Gesäße, Eingänge assoziieren penetrierte Körperöffnungen und Gewaltphantasien von pornographischen Ausmaßen, kaum zu bändigen durch die ästhetische Raffinesse harmonisch fließender, linear betonter Bildfindungen, die ihre Quellen in Symbolismus, Art Nouveau und dem Phantastischen Realismus der Wiener Schule um Ernst Fuchs nicht verleugnen, auch ihre inhaltliche Inspiration durch Hieronymus Bosch auf der einen und Odilon Redon oder Alfred Kubin auf der anderen Seite, und doch in dem neuen Kontext des Gigerschen Kunstkonzepts den unaussprechlichen Schrecken einer ungreifbaren Bedrohung verbreiten, der alles bisher Dagewesene in den Schatten der Hölle stellt.
Science-Fiction-Filme vermitteln seit langem überzeugend realistisch und in vielem inzwischen wissenschaftlich gestützt eine Horrorvision der menschlichen Entwicklung, die nur konsequent die Versuche der Medizin fortdenkt, menschliches Leben mit mechanischen Mitteln nicht nur zu unterstützen, sondern zu potenzieren. Das Holzbein des Seeräubers auf der Schatzinsel war nur der erste Schritt zu Prags Schreckensgestalt Golem, Frankensteins unglücklichen Geschöpfen, dem hilfreichen Robocop und den bösen Borgs als Feindbild braver amerikanischer Star-Trek-Astronauten, die in den biomechanischen androgynen Wesen zwischen heidnischer Göttin und Hermaphrodit, strahlendem Erzengel und finsterer Chimäre, Cherubim, Seraphim und dem aus allen Himmeln gefallenem Luzifer kulminieren, entsprungen antiker Mythologie ebenso wie der jüdischen Kabbala und den Schriften des Christentums, auch den apokryphen, offiziell verschwiegenen und geächteten – und Träger einer zwischen abgründiger Sinnlichkeit und ätherischer Verklärung oszillierenden mystischen Erotik.
Folgerichtig kann also nur das schon erwähnte Alien aus Ripley Scotts Film die eigentliche Krone der Schöpfung sein, denn sie vereint die besten Fähigkeiten biologischen Lebens und die Möglichkeiten kompliziertester Elektromechanik mit einem Überlebenswillen von kreativem Anpassungsvermögen und unvergleichlicher Rücksichtslosigkeit, strotzend von zweckgerichteter animalischer Sexualität.
Philosophie und Ethik haben ebensowenig wie die Weltreligionen bisher diese Zukunftsszenarien visionärer künstlerischer Phantasie in gültige und gut handhabbare Formeln gießen können; unser ahnungsvolles Entsetzen bleibt ratlos angesichts einer nicht mehr beherrschbaren Eigendynamik dieser unausweichlich scheinenden Prozesse. Noch scheint alles ein Spiel, auch wenn es fast körperliche Schmerzen bereitet, sich auf diese Bilder einzulassen und sich vielleicht sogar zeitweilig im Genuss ästhetischer und handwerklicher Perfektion sicher zu fühlen vor dem Aufruhr im Inneren. Und doch sind wir längst „Ein Fressen für den Psychiater“, wie Giger weise schon in den 60er Jahren vorausahnte. Die aus 17 Blatt bestehende gleichnamige Serie zumeist zweifarbiger Flachdrucke spiegeln Alpträume, denen wohl auch ein Psychiater machtlos vis-á-vis steht, will er nicht gleich zum Sediativum greifen. Die systematische Zerstörung der Vorherrschaft von Geist und Seele durch die Macht triebgesteuerter Fleischlichkeit wird gestärkt durch ein Instrumentarium technoid-dinglicher Gewalt, ausgeübt von mittelalterlichen Folterknechten, die alle Kafka heißen, und es spricht auch hier wieder für die Schizophrenie Kunstbesessener, trotz dauerhafter Gänsehaut die grafische Raffinesse der Blätter ohne komatöse Ausfälle genießen zu können.
Giger hat hier vor allem in den „Schächte“ genannten Blättern frühe, von angstvoll erlebter Architektur beeinflusste Alpträume verarbeitet.
Und gleich um die Ecke steht das Magische Theater mit dem Pandämonium seiner Spiegelwelten, in denen sich Hesses Steppenwolf tödlich verliert.
HR Giger, der nette Apothekersohn von nebenan, in der eigenen Designwelt eingeigelt wie in einem schützenden Schneckenhaus und doch wirkungsvoll agierender Science-Fiction-Guru mit weltweiter Fan-Gemeinde, macht es sich und uns nicht leicht mit seiner Arbeit. Aber es ist doch ein Kontrakt auf Gegenseitigkeit, ein Pakt mit Flügel und Bockshuf, einander beizustehen in guten, vor allem aber den offenbar auf Sichtnähe herangerückten schlechten Tagen:
„Ob das Biest in uns drin ist oder auf der anderen Seite, Giger ist der Türhüter oder, um ein Bild zu übernehmen, der tapfere kleine Junge, der mit dem Finger das Loch im Deich zuhält. Und wir, seine allzumenschliche Familie zusammen mit seinen Freunden und Fans, sind seine Armeen der Nacht, an seine Seite gerufen, um die Flut zurückzuhalten, während er den Kurs skizziert von der Erbitterung zum Mitgefühl, von der Asche zu den Sternen.“ (Leslie Barany)
Erfurt, Februar 2007 | Dr. Jutta Lindemann