Leben ist schön, und Leben ist furchtbar. Leben ist unberechenbar.
Jedem kann alles passieren, niemand ist gefeit vor Himmel und Hölle.
In Büchern, im Theater und im Film, aber auch in der Zeitung und in den Fernsehnachrichten können wir, wenn wir wollen, täglich erleben, wie Menschen, die unsere Nachbarn sein könnten, völlig unerwartet die schönsten Wunder und die schrecklichsten Katastrophen passieren.
Und wir sehen, wie sie zwischen Jubel und Verzweiflung hin und her gerissen werden – manchmal auch so sehr, dass sie es kaum noch aushalten können. Dann wird Hilfe gebraucht, und diese Hilfe gibt es.
Sie kommt von anderen Menschen, und sie kann von der Kunst kommen, von der Musik zum Beispiel und sehr oft von der Malerei.
Malerei kann uns die Kraft geben, selbst gegen all die Dinge anzukämpfen und sie zu besiegen, die uns in diese Hölle gestürzt haben. Denn Malerei ist ein Zaubermittel. Sie kann auf besondere Weise unsere Gefühle wecken, auch die ganz tief verborgenen, die wir vielleicht selbst noch nicht kannten.
Wie der Malerei das gelingt, das können wir heute hier selbst erleben, wenn wir diese wunderbaren Bilder betrachten.
Die 14 an dieser Ausstellung Beteiligten konnten das Wunder am eigenen Leibe erfahren. Sie haben erlebt:
Malerei ist mit den Händen zu greifen. Malerei leuchtet, Malerei riecht, Malerei ist Bewegung. Führt man den Stift oder Pinsel über die Fläche, so dass die Linien hüpfen und springen oder glatt und klar ihre Bahn ziehen, dann fühlt sich das an, als ob man durch ein großen, weiten Raum tanzt.
Malerei ist Farbe: Rot glüht wie Feuer, Blau schimmert wie Himmel und Meer, Grün leuchtet saftig wie Wald und Wiese, Gelb strahlt wie die Sonne – Erinnerungen an Naturerlebnisse, aber auch an Musik, denn wenn diese klaren Töne wie laute Trompeten oder schrille Saxophone aufeinander treffen und sich nach einem zünftigen Gefecht auf einmal miteinander anfreunden und vermischen, entdeckt der Pinsel dazwischen ganz überrascht auch die berühmten Zwischentöne: das geheimnisvolle Violett, das eisige Türkis und das wilde Orange und noch viele andere feine Klänge wie von der sanften Flöte oder von einem samtigen Bass, denn beim genauen Hinsehen ist Weiss gar nicht nur Weiss und Schwarz nicht nur Schwarz – auch darin lebt die ganze unfassbar weite und unerschöpfliche Welt der Farben. Das zu erleben, ja sogar selbst hervorzubringen ist immer wieder total spannend und macht bei jedem neuen Bild wieder neu Spass, manchmal so sehr, dass man nie wieder aufhören oder gleich wieder anfangen möchte.
Und selbst wenn man am Ende fix und fertig ist – genau wie das Bild – dann ist diese Müdigkeit auch Glück, denn man kann sich stolz zurücklehnen und sicher sein, etwas völlig Einmaliges in die Welt gesetzt zu haben, das niemand anderes so fertigbringen kann: Jedes Bild ist dadurch etwas ganz Besonderes, weil es ein Stückchen der eigenen Persönlichkeit widerspiegelt, manchmal leicht zu erkennen, manchmal verborgen und verschlüsselt, aber immer ganz individuell und unwiederholbar.
Das macht auch Mut, Angst zu überwinden, zum Beispiel die vor dem ersten Strich auf dem großen leeren Blatt. Denn ich weiss: Das kann ich schaffen. Ich kann etwas Schönes schaffen, das mir, aber auch anderen gefällt.
Und beim Malen kann ich eine Tür öffnen, durch die nicht nur meine tiefsten, nicht in Worte zu fassenden Gedanken und Gefühle einen Weg nach außen finden, vielleicht sogar hin zu anderen Menschen, die auf der gleichen Wellenlänge sind wie ich, sondern durch die ich auch die Dinge der Welt, die Dinge des Lebens in mich hineinlassen und mit Hilfe der Linien und der Farben bändigen und beherrschen kann.
Malen ist immer auch anstrengende Arbeit – im Kopf, aber auch mit dem Herzen und mit den Händen. Erst muss ich anfangen können, dann ständig Entscheidungen fällen, ich muss durchhalten bis zum Ende und dann auch noch zum richtigen Zeitpunkt aufhören können. Das alles ist echt schwer, aber zu schaffen – das beste Training dafür, wie man den inneren Schweinehund besiegt und Schwierigkeiten überwindet.
Malerei ist wie Lachen und Weinen zugleich und doch anders: Es berührt und erfreut genauso, aber es tut wunderbarerweise nicht so weh.
Was beim Malen alles möglich ist – das zeigen diese phantastischen Bilder in aller Vielfalt:
Das Angebot reicht von einfach nur ineinander fließenden intensiven Farbflächen oder geometrisch strengen Ornamenten, inspiriert von buddhistischen Mandalas, über klar aufgebaute, großzügige Landschaften und sensibel gesehene Menschenbilder aus der Naturbeobachtung bis hin zu komplizierten Bildkompositionen von Visionen und Träumen mit philosophischem Hintergrund.
Es gibt hier Zeichnungen, die ganz von der Linie leben und detailliert ganze Lebensgeschichten erzählen, klassisch-akademisch oder in Comicsprache, und dort abstrakte Gefüge, entstanden aus reiner Lust am Leuchten des Lichtes aus dem Inneren der Farben heraus und im leidenschaftlichen Überschwang der Gefühle beim Malen selbst.
Wir finden ganz stille Bilder und ganz wilde – je nach Temperament und Situation des Malers. Und ganz nach eigener Wahl – so wie auch jeder selbst den Beitrag zur Ausstellung auswählen konnte – wird in Acryl, Aquarell oder Pastell gearbeitet, mit Stift oder Pinsel, auf Papier oder Leinwand, riesengroß oder miniaturklein.
Zu manchen Bildern gehört eine aufwendige theoretische Vorbereitung, andere entstehen aus einer spontanen Stimmung heraus.
Impulse kommen aus Gesehenem – dazu gehören zuweilen auch Ausstellungen in der Kunsthalle – oder ganz aus dem Innerem.
Und jedes der Bilder ist auch immer ein Selbstbildnis seines Schöpfers, denn es geht nicht um äußere Ähnlichkeit, sondern um das innere Wesen, dieses sensible Gebilde aus unseren Erinnerungen und Wünschen, Verletzungen und Hoffnungen, das sich hinter den Farben, Formen und Linien verbirgt.
Zu entdecken, welchen Reichtum jeder Mensch in sich trägt – auch die bösen Erinnerungen, aber eben auch viele gute Erfahrungen und Begegnungen – das ist ein wichtiges, unvergessliches Erlebnis, das vom Malen hervorgerufen werden kann – und das man sogar teilen kann mit anderen und sich dabei geborgen fühlen kann als Teil eines großen Ganzen, wenn man das will.
Denn wer weiss besser zu schätzen, was Malen bedeutet – wer kann das Ergebnis besser beurteilen als jemand, der selbst malt!
Und genauso wichtig ist es zu erfahren: Alles, alles, alles ist möglich in dieser schönen, geheimnisvollen Welt der Malerei, auch das, was uns die Wirklichkeit oft verwehrt. Das Malen ermöglicht mir, eigene neue Welten zu erschaffen – im Kopf und in der Realität, denn jedes Bild ist auch selbst ein Stück handfeste Wirklichkeit. Da blühen Rosen auf, Herzen schlagen uns entgegen, Wellen rollen ans Ufer, Planeten sausen durch das All, Wolken treiben dahin, Meschenaugen blicken uns an. All das kann man sehen und sogar anfassen, also ist es real, wenn auch aus Farbe und Papier. Und sogar einfach das Rot, das Blau, das Grün, das Gelb sind eine eigene Wirklichkeit, die ich selbst jederzeit erschaffen kann – wenn das kein Wunder ist, was dann?
Ebenso wunderbar ist: Beim Malen darf sogar mal was schiefgehen – alles lässt sich korrigieren, man kann immer noch einmal beginnen und es anders, vielleicht sogar besser machen. (Vermutlich hat auch der große Schöpfer manchmal seine schwachen Minuten gehabt, denn er bessert offenbar heute noch immer ein bisschen an der Welt herum, und ein paar Fehlerchen gibt es wohl auch immer noch …!)
All das macht Mut – fürs Leben, Weiterleben, Neubeginnen – Mut, „Aber trotzdem!“ zu sagen, vielleicht von nun an mit einem lebenslangen, hilfreichen Begleiter an der Seite: der Malerei. Denn wer einmal von der Malerei besessen ist, den lässt sie nicht los, und das ist gut so!
Wegbegleiter können auch gute, kluge Künstler sein, die sich mit der Malerei auskennen – wie zum Beispiel Paul Klee, der gesagt hat:
„Die Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar“,
oder Pablo Picasso, der wohl am eigenen Leibe erfahren hat:
„Kunst wäscht den Staub des Alltags von der Seele.“
Besser kann man es gar nicht sagen – daher fällt mir zum Schluss auch nur noch ein einziges Wort ein, ein Wort an alle Beteiligten, auch an die vielen Helfer im Hintergrund – und das heißt ganz einfach: WEITERMACHEN!
Erfurt, 22.08.2008 | Dr. Jutta Lindemann