Alexander Sementsow

Malerei – Michaeliskirche 01.03.2009

„Родился я с любовию к искусству“ – „Der Kunst galt meine Liebe von Geburt“, das könnte Alexander Puschkin statt als Selbstbekenntnis von Mozarts Widersacher Salieri auch über Alexander Sementsow geschrieben haben.

 

Die Leidenschaft für die Kunst sog der im 1. Kriegsjahr 1941 in Kertsch Geborene gewissermaßen mit der Muttermilch ein, denn seine Mutter war selbst Malerin, sein Vater Architekt. So absolvierte Sementsow parallel zu einem Studium der Nuklearphysik die Kunstakademie von Tiflis. Seit 1976 Mitglied des georgischen und seit 1986 des sowjetischen bzw. dann russischen Künstlerverbandes, trat er in zahlreichen Einzel- und Gemeinschaftsausstellungen in Georgien, Abchasien, Russland, aber auch in Warschau, Lyon, Paris und Berlin hervor, seit er 1989 neben St. Petersburg auch im brandenburgischen Bad Beeskow, das zum wichtigsten Motiv seiner Malerei wurde, eine zweite Heimat gefunden hatte, aber auch in Frankfurt/Oder, Bremen, Hamburg, Kiel, Düsseldorf, München und anderen deutschen Städten wie auch in Beeskow selbst. Seit 1989 gab ihm die Perestroika die Möglichkeit, die Heimatländer der von ihm verehrten französischen und spanischen Maler zu sehen. Und dass es vor allem die inzwischen schon Klassiker gewordenen Impressionisten sind, die sein Konzept deutlich prägen, macht diese kleine Auswahl aus einer beeindruckenden Fülle von Landschaftsbildern überzeugend sichtbar, die vorrangig in Berlin und im Umfeld der Stadt entstanden, aber durch ihre empfindsame, subtil modulierte Farbgebung und ihren weichen, sensiblen, doch zugleich lebhaften Pinselduktus nach meinem Empfinden ein fast russisches Flair ausstrahlen, das man nur mit dem altmodischen, aber schönen Wort poetisch bezeichnen kann. Sanfte Farbverläufe verschleiern tektonisch klare Konturen, interpretieren das sachlich Erkannte und Erfasste emotional, aus der Seele heraus. In die Natur eingebettete Architektur ist wohl schon durch das väterliche Blut ein weiterer bedeutsamer Schaffenskreis für Alexander Sementsow.

 

In St. Petersburg interessierte ihn dabei besonders der Kontrast zwischen den prunkvollen historischen Hinterlassenschaften und der heutigen sozialen Situation vieler Menschen – eine Auseinandersetzung von hohem politischen Potenzial, wie sie auch ein ganz anderes Arbeitsfeld, seine in höchstem Maße expressiven spontan hingeschriebenen grafischen Blätter bestimmen.

 

Von warmem Licht durchdrungen sind die Studien von Beeskow und Umgebung (auch gelegentliche Besuche in Erfurt inspirierten ihn immer wieder); streng und lastend in farbsatter dunkler Schwere stehen verwandt daneben als Werke einer selten gewordenen Gattung die Stilleben. Beide Werkgruppen brillieren mit kultiviert gemalten, klassisch gebauten, harmonisch in sich ruhenden Kleinodien, die uns die Freude des Malers am Geschauten, aber auch am Malvorgang selbst und seinem Ergebnis, die pure Lust am Gleichklang von Komposition, Farbe, Form, Duktus und Textur weit über die Illusion von Wasser, Himmel, Mauer- oder Blattwerk hinaus auf kleinstem Raum miterleben lassen.

 

Doch wer wie Sementsow seinen Blick aufmerksam auf und in die Welt richtet, kann nicht ihre Schönheit genießen und vor ihren Schrecken die Augen verschließen. Mit zunehmendem Alter des Künstlers, aber auch durch aktuelle Anlässe aufgewühlt, durchbricht der politische Alltag die Idylle seiner Bildwelten und wirft seine Schatten über die Leinwand. Als Augenzeuge der Auseinandersetzungen im Kaukasus zu Beginn der 90er Jahre wird er zum zornig protestierenden Chronisten in der deutlichen Erbfolge etwas eines Francisco Goya.

 

Um seinen Gefühlen des Schmerzes, der Verzweiflung und des Mitleids  direkt aus dem Herzen heraus Gestalt verleihen zu können, wählt er neue Mittel – die spontane Zeichnung, das flüchtige Aquarell; um die Wucht der Ereignisse und seine Wut darüber bändigen zu können, benötigt er größere Formate, und oft scheint sich sogar das Papier unter den heftigen Pinselschlägen aufzubäumen, mit denen er  gegen die wachsenden Widersprüche in seiner Heimat anzukämpfen versucht.

 

Das Werk ist Spiegel der Seele. In seinem Herzen wie auch in seinem Schaffen prallen die Widersprüche seiner, unserer Welt aufeinander:
Der an klassischer Ästhetik geschulte Impressionist von altem russischem Schlag, im Geiste auch eines Lew Tolstoi, der in der Natur die Seele der Welt sah und die Verbundenheit zu ihr und einem einfachen Leben in und mit ihr zum einzig sinnvollen Lebensinhalt erklärte – tief ersehnt und doch unerreichbar, trifft auf den zornig aufbegehrenden Expressionisten, der eruptiv wie ein Vulkan seinen Zorn auf die Bildfläche katapultiert, als engagierter Weltbürger und damit erst recht ein richtiger Russe.

 

Und doch ist es immer auch einfach schöne Malerei, die der Künstler um sich herum wie einen eigenen Kosmos geschaffen hat, in den er uns einlädt und der ihn, der 2005 auf dem Weg zum Atelier in St. Petersburg unerwartet starb, überleben wird.

 

Und diese Malerei hat eine Botschaft für uns, ein Traum, eine Vision, die wohl auch die des Künstlers war und die Dietrich Gronau im Katalog von 2002 so formulierte: Es sollte wieder ein Zeit kommen, in der die Schönheit triumphiert, die Schönheit des flirrenden Lichts über den Flüssen, der silbergrauen Luft über den Wiesen und den friedlichen Städten, aus denen der Spuk gewichen ist, aus Suchumi und Moskau, aus Paris, Washington, Berlin, Beeskow und allen anderen.

 

Puschkin lässt Mozart kurz vor seinem Tod sagen:
„Нас мало избранных, счастливцев праздных,
Пренебрегающих презренной пользой,
Единого прекрасного жрецов.“
„Wir wenigen Erwählten, Glückes Kinder,
Die der verhassten Nützlichkeit entflohn,
Sind Priester einzigartger Herrlichkeit.“

 

Zu diesen Glückskindern durfte sich auch der Maler Alexander Sementsow zählen, und ab heute lässt er uns für einige Wochen an diesem Glück ein wenig teilhaben. Dafür gilt unser Dank, wenn auch nur posthum, zuerst ihm selbst, aber dann auch allen, die dazu beigetragen haben.

 

Erfurt, 28.02.09 | Dr. Jutta Lindemann