Drunter und drüber – drinnen und draußen – mit allem Drum und Dran

Von oben herab und von innen heraus:
Ein-, Aus- & Ansichten einer „Krämerin“ vom Erfurter Brücken-Leben


2021?

Sollte eigentlich uneingeschränkt ein Jubeljahr für mich werden: Seit 20 Jahren Bewohnerin der legendären Erfurter Krämerbrücke – wenn das kein Grund zum Feiern ist?! Nun aber hat dieses Jahr eine ganz andere Bedeutung gewonnen – nicht nur für mich als Jubiläums-Brückenbewohnerin, sondern vielleicht für alle BewohnerInnen dieses Planeten, die sich durch die Kraft solidarischer Klugheit vereint eine Brücke aus der Gefahr der Selbstzerstörung zum rettenden Ufer des Miteinander-Überlebens gebaut und die gefährlich weit geöffnete Büchse der Pand(em)ora gemeinsam wieder geschlossen haben.

Aber „Brückenbewohnerin“ – was soll das eigentlich sein?

Ein Geheimcode für Eingeweihte?

Und wieso „von oben herab und von innen heraus“?

Eigentlich haben die meisten Menschen eher Vorstellungen davon, wie das Leben unter einer Brücke so aussehen könnte. Manchmal sieht man es im Krimi – etwas ungemütlicher als vermutet scheint das allerdings zu sein und findet leider mangels bezahlbarer Alternativen auch zumeist unfreiwillig statt.

Aber nahezu romantisch malt sich das so mancher aus, wenn der Fluss, der unter der Brücke entlangströmt, beispielsweise Seine heißt und die Stadt drumherum Paris. Sicherlich wimmelt es doch da von Künstlern und anderen unkonventionellen, kreativen Aussteigern – die Rotweinflaschen kreisen zu Gesang und Gitarrenklängen, und die sogenannte freie Liebe feiert fröhliche Urständ‘ – oder?

Abgesehen davon, dass es womöglich leider auch unter den Seinebrücken inzwischen mit der Romantik nicht mehr weit her ist (und vermutlich nie war) – erhebt sich außerdem noch die Frage, warum sich offenbar kaum jemand Gedanken macht, wie es sich denn auf einer Brücke wohnt, denn dafür sind Brücken eigentlich nicht vorgesehen.

Nicolas-Jean-Baptiste Raguenet: Das Stechturnier der Flussschiffer zwischen dem Pont Notre-Dame und dem Pont au Change (1756), bearbeitet.

Leider lässt sich das auch wirklich weltweit kaum noch beobachten, denn über die Jahrhunderte hinweg haben sich diese speziellen Biotope ziemlich dezimiert.

Eine besondere Variante vom Leben und Lieben auf einer (zeitweilig für Bauarbeiten gesperrten) Brücke präsentierte vor einigen Jahren der Film „Die Liebenden von Pont Neuf“.

Und kurze Zeit später stürzten im Film „Das Parfüm“ spektakulär einige Bewohner einer zusammenbrechenden Brücke im Schlaf zu Tode.

Es überrascht wohl niemanden, dass beide Tatorte in Paris stehen bzw. standen: Erstere Brücke, unbebaut, wurde zur Drehzeit tatsächlich renoviert, letztere, den Film inspirierende namens „Pont au Change“, jahrhundertelang mehrstöckig dicht bebaut und bewohnt, vor über 200 Jahren bedauerlicherweise komplett von ihrer (offenbar maroden) Bebauung befreit.

Naja, im magischen, mythisch-mysteriösen, märchenhaften Paris ist eben alles möglich – aber woanders?

Zumindest führen noch einige einigermaßen ansehnliche bebaute und auch bewohnte Brücken in Europa über diverse Flüsse – genauer die Pulteney-Bridge im englischen Bath (OK – Fast-Ex-EUropa …!) über den Avon, im italienischen Florenz über den Arno die Ponte Vecchio und im deutschen Erfurt die Krämerbrücke über die Gera.

Auf allen drei Brücken gibt es Handel und Wandel, man kann unter (verschiedenen) Umständen auch essen, trinken, einzeln und vermutlich sogar zu zweit schlafen etc. – und bei einer davon alles davon sogar zusätzlich auch darunter, nämlich unter der Krämerbrücke, denn einige ihrer Bögen kann man als einzige auch „unterwandern“ und so beispielsweise eine kleine Insel zwischen zwei Flussarmen erreichen.

In warmen Sommernächten gibt es daher zu Füßen und unter der Krämerbrücke nicht nur baumbekränzte (!) Picknicks, sondern gelegentlich auch Übernachtungsgäste – und hier ist das dann vielleicht wirklich fast so romantisch wie in den Visionen vom freien Leben der Bohème unter den Pariser Brückenbögen (siehe oben)!

Woher ich das weiß? Ich kann es hören und sehen – vom Hochsitz auf meiner über all dem schwebenden Loggia aus.

Und dabei bin ich nicht die einzige, die über eine solche Loge mit privilegiertem Ausblick auf das alltägliche Lebensspektakel um die lebendige alte Brücke herum verfügt.

Von den drei Brücken ist nämlich die Krämerbrücke nicht nur die mit Abstand grünste, weil von vielen alten und neuen Bäumen, Büschen und bepflanzten Flächen umsäumte, sondern vor allem bei weitem die wohnlichste – im wahrsten Wortsinne. Und ich kann‘s vergleichen, ich kenne alle drei aus nächstem Augenschein!

Die von der „Stiftung Krämerbrücke“ auserwählten „KrämerInnen“ (auch solche ohne Läden bewohnen zumeist die oberen Geschosse) bilden eine große Familie für sich, denn sie – das ist Mietbedingung, vorgegeben von einer zuvörderst zum Zweck des Denkmalschutzes gegründeten Krämerbrückenstiftung – verbindet die Liebe zu Kunst und Kultur, die sie alle in irgendeiner Form unterstützen und/oder selbst produzieren und die Resultate zuweilen zu ihrem Lebensunterhalt den Vorübergehenden auch feilbieten wie ihre Vorfahren im Mittelalter.

So eine aus den Oberstübchen zu sein, wo man nicht nur besonderen Ein-, sondern auch unvergleichlichen Aus- und Weitblick in und vom ganz speziellen Organismus des Phänomens Krämerbrücke gewinnen kann, habe ich seit fast zwanzig Jahren die Ehre und Freude, denn Kultur – vor allem im Bereich der bildenden und angewandten Kunst – in unserer Stadt zu fördern, war jahrzehntelang meine Profession und Obsession, haupt- und ehrenamtlich (letzteres noch immer).

Und genau das wurde für mich der Schlüssel zum Glück.

Sicherlich auch alle anderen Brückenbewohner empfinden es als ein Privileg, im Herzen unserer liebenswerten alten Stadt zu leben und mit dem Einzug lebendiger Bestandteil eines historischen und selbst höchst lebendigen Gesamtkunstwerks geworden zu sein.

Ob Rapunzelturm oder Dornröschenschloss als kafkaeskes Labyrinth,  verwunschene Burg des Biests oder Eispalast der Schneekönigin, sogar das Gerippe eines uralten Sauriers, aber auch Mutters Küche der Wohlgerüche oder Omas Dachboden voll geheimnisvoller Schatztruhen, die leuchtende Weihnachtsstube der Erwartungen und der lärmende Hinterhof: Immer ist der erste Schritt auf die Brücke, wie sie sich in meinen Augen auch gerade befindet und anverwandelt, ein Nachhause-Kommen zu einem Ort der Geborgenheit, der uns mit seinen steinernen und natürlich auch den darin lebenden menschlichen Armen umschließt.

Das beginnt bereits mit dem Einzug – eine Performance der dritten Art, denn das Rückgrat jedes Hauses bildet – oh Architektentraum voll holder Nostalgie, oh Graus des aktuellen Wohnalltags – die auf vielfältige Art gewendelte, maximal manns- bzw. frausbreite Holztreppe, die jedem Bewohner allerhöchstens den Besitz von Stühlen gestattet. Anderes Mobiliar erfordert den temporären Geländerabbau oder von vornherein luftige Transportexperimente durch Fenster oder Balkontüren, ansonsten den Zusammenbau von Schränken, Regalen etc. vor Ort.

Bei Anlieferung übern Balkon ist ebenfalls zeitweilig das Hindernis eines Gebildes zu überwinden, welches einerseits den stürmischen Andrang brutwilligen Geflügels von außen, andererseits die ungezähmte Jagdlust sprungfreudiger Vierbeiner von innen hindern soll: das sogenannte Taubennetz. Und so schwebten auch in meinem Fall über mehrere Stunden hinweg Liegemöbel, Kühlschrank, Glasvitrinen und weiteres sperriges Umzugsgut per Hebebühne von der Breitstrominsel hinan, während das dazugehörige Transportfahrzeug sich die Reifen vom Gerawasser umspülen lassen musste – mit dem der Hosenboden des Chauffeurs unverhofft ebenfalls Bekanntschaft schloss.

Der später alltägliche mehrfache Treppengang auch innerhalb der Wohneinheit selbst bewahrt diese Erinnerung eindrücklich, denn er verlangt nach durchdachter Logistik: jeder vergessene, aber gerade oben oder unten benötigte Gegenstand trainiert die Beinmuskulatur – auch ungewollt (und danach in Folge natürlich das Gehirn).

Und so hat doch alles auch seine guten Seiten …

Lohn der Mühen ist schlussendlich der erhabene Ausblick – geschützt  auch vor Regen und Schnee und durch üppige Bepflanzung angenehm optisch vor Gegenblicken abgeschirmt von der nunmehr natürlich erneut vernetzten und damit in jede Richtung tiersicheren gemütlichen Loggia, die durch das bunte, muntere Geschehen in der Tiefe tatsächlich zur Loge wird – für mich wie für die vielen Mitbewohner rechts und links von mir, mit denen mich auch dieses tägliche (und nicht selten auch nächtliche) Erlebnis verbindet. Und zuweilen richtet sich der Blick sogar durch die alten Bäume hindurch und den Flusslauf entlang zum Horizont wie der eines Kapitäns auf seiner – nun ja – Brücke …

Es gibt jedoch genug weitere und andere, viel intensivere Erlebnisse dieser ganz besonderen äußere und innere Nähe und Gemeinsamkeit, die das Band zwischen uns Brückenbewohnern sichtbar und fester machen, als diese leichte Form von Voyeurismus.

Das ist natürlich allem voran unser kleines eigenes Krämerbrückenfest,  charmantes, intern-intimes Pendant zum traditionellen, inzwischen leider eher massentauglich-merkantil geprägten Volksfest an jedem 3. Juniwochenende, das vor über 50 Jahren als kleines, aber feines und vor allem kulturell dominiertes Stadtteilfest rings um die Brücke begann, sich inzwischen tsunamiartig über die gesamte Altstadt ergießt und binnen dreier Tage mehrere Hunderttausend feier- und kauflustige Besucher aus ganz Deutschland und darüber hinaus aufnimmt.

Aber dazu soll es ja endlich neue Einsichten und Absichten geben!?

Lassen wir uns überraschen, ob die kulturelle Obrigkeit tatsächlich zu den Wurzeln zurückfindet, um angemesseneres Neues daraus sprießen zu lassen …

Da ist das adventliche Glühweinantrinken bei Ronny im Gewürzladen, (das in diesem bösen Jahr erstmals zu unser aller großem Bedauern ausfallen musste) – danach ein täglicher Treffpunkt nach Ladenschluss –   oder einfach das alltägliche Begrüßen und Zuwinken von Haus zu Haus.

Und da gibt es auch noch die kleinen, stillen Seelenerlebnisse, die familiäre Verbundenheit zeigen – wie die im strömenden Regen trauervoll und zugleich ermutigend leuchtenden Bänder aus Teelichten auf allen Fensterbänken, Stufen und Simsen der Erdgeschosse die ganze Brücke entlang im April 2002 nach dem Amok-Attentat am Gutenberg-Gymnasium, die mich weinen ließen – unvergesslich wie vieles andere, so auch die Trauerfeier mit gemeinsamem Singen von Tür zu Tür und Ägidien-Glockengeläut im März diesen Jahres zu Ehren einer verstorbenen Brückenbewohnerin.

Diese Dinge geschehen spontan aus einem großen inneren Einvernehmen heraus und berühren gerade deshalb so tief.

Ebenso bemerkenswert erscheint ein weiterer Aspekt: Seit ich auf der Brücke wohne, sind alle alten Alpträume verschwunden: die jahrelange nächtliche Suche nach Wasser in Phantasiestädten und -landschaften zum Beispiel (das fließt jetzt unentwegt unter mir) oder die abenteuerlichen Verschmelzungen alter und neuer Wohnungen zu immer neuen, geradezu kafkaesk anmutenden Wunsch-Domizilen (da ich dies wohl nun endlich gefunden habe).

So fühle ich mich in meinem Höhlenuniversum mit Frischluft-Weitblick, zwischen knackenden, knisternden jahrhundertealten Balken, umhüllt von kuschliger Katerliebe ebenso wie von Erinnerungen in Gestalt von Büchern, Bildern und Klamotten und schützend umgeben von anderen vermutlich ebenso individuellen Behausungen, offenbar geborgen genug, um das Corona-Asyl psychisch bisher ohne Kratzer zu überstehen (toitoitoi!). (Zum Glück gibt’s ja auch noch Post, Telefon und Internet!)

Ob es allerdings noch einmal 20 Jahre werden dürfen, wage ich zwar zu bezweifeln, aber selbst wenn die auch schon knarzenden Treppen mich eines Tages zur Entdeckung (und Akzeptanz) der Langsamkeit zwingen sollten wie wohl schon so manchen vor mir – gedenke ich trotz alledem dieser zum Glück und dank Denkmalschutz auch für die nächsten Jahrhunderte noch unsinkbaren alten Arche nicht so bald den Rücken zu kehren.

Selbst ein Fluss, in dem sogar die Enten stehen können, verfügt eben über einen Hafen – auch wenn dieser seltsamerweise eine Brücke ist.

Schaumermal …

 

Mal zeigt es die Rückseite,

mal die Vorderseite,

das Ahornblatt im Fallen.

 

(Haiku, Japan)