Sabine Hellmuth

Die Geschichtenerzählerin

Laudatio zur Vernissage am 4.4.2008 in der Bibliothek Berliner Platz

Geschichten erzählen zu können ist eine besondere Gabe.

 

Noch heute versammeln sich auf orientalischen Marktplätzen Alt und Jung, um solchen begnadeten Sprachkünstlern, denen es gelingt, den Faden ihrer Erzählung wieder und wieder so wendungsreich zu verschlingen und wieder zu entwirren, dass man bis zum letzten Wort in den Bann geschlagen wird von der abenteuerlichen Reise durch die wilden Welten unserer hochfliegendsten Gedanken und abgrundtiefsten Gefühle, die die Phantasie eines guten Geschichtenerzähler in uns freizusetzen vermag, atemlos zum lauschen.

 

Die besten Geschichten sind daher die, die uns Zuhörer oder Zuseher ermutigen, die Fäden selbst weiterzuspinnen, zu neuen eigenen Geschichten zu verknüpfen, die uns so ganz nebenbei zeigen, welchen Reichtum wir zwischen Tag und Traum, Himmel und Hölle, Lachen und Leiden ins uns selbst zu entdecken vermögen, wenn wir mithilfe von Worten und Bildern erst einmal den Schritt in die Welten hinter den Spiegeln gewagt haben.

 

Eine solche Fabuliererin ist die fröhliche Selfmade-Künstlerin Sabine Hellmuth, vielseitig lebenserfahren als Bibliotheksassistentin, Verkäuferin und Designerin für Weihnachtsschmuck, aber vor allem als neugierige und aufmerksame Frau zwischen skurrilen Alltagssituationen und bizarren Traumwelten augenzwinkernd und doch ernsthaft unterwegs auf Sinnsuche zwischen den Aufbrüchen und Abgründen des Lebens.

 

Wortgeschichten unterschiedlichster Ursprünge von der Zeitungsannonce bis zu Märchen wie denen von Hans Christian Andersen und mystischen oder skurrilen Gedichten von Goethe bis Morgenstern fordern sie heraus, sie in Bildern weiterzuerzählen – die nächste Fortsetzung wächst danach in unserem eigenen Kopf weiter, wenn wir mutig genug sind, unseren eigenen Teil dazuzutun, der immer seine Quelle in dem hat, was wir unverhofft über uns erfahren, wenn ein Bild uns wirklich berührt.

 

Die Bildgeschichten steigen unvermittelt aus ihrer inneren Welt empor bis auf das Zeichenpapier, und Feder und Tusche sind wichtige Werkzeuge, sich von ihnen durch dieses Nach-außen-Bringen zu befreien, auch wenn sofort immer wieder neue Bilder nachströmen.

 

Und in ihrer Nachbarschaft tummeln sich dann auch nicht ganz überraschend Alice aus dem Wunderland, ATM – auch als Alfred Traugott Mörstedt in die Erfurter Kunstgeschichte eingegangen – und auch die kribbligen kleinen Geister des Grafikers Horst Hussel oder die subtilen Figurationen des grafischen Großmeisters Aubrey Beardsley scheinen über den Aquarellwassern zu schweben.

 

Was aber geschieht zwischen all den hüpfenden Linien und Punkten, die aus fließenden Farbklecksen wie zufällig herauszuspringen scheinen?

 

Aus Wort- und Traumspielen geborene Geschöpfe gewinnen Gestalt: – mit Schmunzeln aus Flora und Fauna hiesiger und ferner Welten zwischen Tag und Traum frech und frei zusammengemixte Chimären einer satirischen Fantasie, die grafisch souverän beherrscht wird vom kleinsten Klecks bis zur komplexen Komposition eines bewegten Bildraums. Und ein bisschen Gänsehaut kann uns da auf einmal trotz aller zunächst sichtbaren Heiterkeit über den Rücken kriechen beim imaginären Gesang all der kleinen uns umtanzenden Bildgeschichten-Geister, dem der Sabine Hellmuth sehr inspirierende Dichter Christian Morgenstern Worte verliehen hat:

 

Blödem Volke unverständlich

treiben wir des Lebens Spiel.

Gerade das, was unabwendlich,

fruchtet unserem Spott als Ziel.

 

Magst es Kinder-Rache nennen

An des Daseins tiefem Ernst;

Wirst das Leben besser kennen,

wenn du uns verstehen lernst.

 

Sabine Hellmuth wachsen diese wilden Wesen fast wie von selbst aus den Händen. Die Quellen der Inspiration bleiben manchmal auch ihr ein Geheimnis, manchmal Eindrücke aus dem Alltag, Gesprächsfetzen, Träume, die sich surreal zueinander fügen, übereinander lagern.

 

Aber was heraus muss, bahnt sich unaufhaltsam seinen Weg. Ganz von selbst geht’s natürlich nicht – und auch das richtige Gespür für den Ausdruck von Linien und Farben, Erfahrung mit dem Charakter einer Komposition und Bildordnung und eine große Portion handwerkliches Können gehören dazu, um solch sprudelnde Ideen auf dem Papier durch die angemessene Form auch für andere sichtbar zu machen – auch wenn das Resultat dann scheinbar mühelos entstanden zu sein scheint.

 

Aber das wissen wir ja schon von Karl Valentin:  „Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit!“

 

Und Lust und Spaß bei der Sache hat sie selbst bei aller Mühe immer.

Manches Mal findet sie dabei sogar hinter einer Geschichte noch eine zweite oder dritte, die die erste erklärt und ihr Geheimnis lüftet – wie hier am Schicksal des Erlkönigs exemplarisch vorgeführt.

 

Sich mit Lust in die Gewalt dieser Geschöpfe zu begeben zu oder sich mit Grausen zu wenden und entsetzt und naserümpfend diesen eigentümlichen Ort zu fliehen, bleibt letztlich der Entscheidung des Betrachters überlassen.

 

Aber Flucht wird unmöglich gemacht, denn da gerät der Abtrünnige unversehens in das zweite Leben der Sabine Hellmuth, denn die nimmt es auf einmal ganz wörtlich mit dem Weiterspinnen der Fäden, die ebenso grafische wie auch plastische Elemente sein können, aber zugleich ebenso Wesen mit einem ungezügelten Eigenleben auf der Bühne eines kostbaren winzigen Makrokosmos, der aus dem Blattraum heraus mittels verhaltener Plastizität peu á peu die dritte Dimension erobert.

 

Fäden – fein, glatt, glänzend oder derb, rauh, stumpf – bilden die goldhellen Fangnetze und Sperrgitter, Wegkreuzungen und Labyrinthe eines Sonnengeflechts, graben sich durch bizarrblaue Mondlandschaften aus Wollfusselbergen und Vliesmoostälern, schlagen Brücken über sanft schimmernde Seidenflüsse, buckeln sich widerborstig zu Knotenknospen und Noppenstoppeln, gleiten durch Tüllwolken, Glassteingeglitzer und Paillettenwirbel des Sternenzeltes, umzäunen bernsteinleuchtende Faserbündelwiesen – und aus jedem Stich steigt ein neues, ganz anderes Märchen auf, voll sinnlicher Lust am Ertasten, Be-Greifen von Stofflichkeit, Strukturiertheit des unter ebenso phantasievollen wie geduldigen Händen lebendig sich formenden Materials Textil und seiner kunterwunderbunten Verwandtschaft, das unendliche Ausdruckskraft besitzt.

 

In engstem Sinne trifft hier zu, was August Strindberg in „Traumspiel“ beschreibt:

„Alles kann geschehen, alles ist möglich und wahrscheinlich.

Raum und Zeit existieren nicht.

Auf einem unbedeutenden wirklichen Grunde spinnt die Einbildung weiter und webt neue Muster.“

 

Und ist das nun Kunst – oder was? Tja – wer viel fragt …

Wer weiß denn schon wirklich und unumstößlich, was Kunst ist!?

Kunst hin, Kunst her – mir jedenfalls gefällt’s, weil es meine Phantasieschatztruhe öffnet, meinen Märchenmotor anwirft, meine Ideenmühle rotieren lässt – und Lachtränen auf Gänsehaut folgen.

Wo bleibt der Kinderbuchverlag, der das entdeckt?

„Kunst wäscht den Staub des Alltags von der Seele“, sagt Pablo Picasso. Na also! Das isses! Meine Rede!

Und wenn wir uns schwertun, Kunst zu definieren – wenigstens einer wusste zumindest, was Künstler sind:

Das letzte Wort hat in seinem Ehrenjahr Wilhelm Busch!

 

Erfurt, 04.04.2008 | Dr. Jutta Lindemann