Carmen Lewin-Stern

Zuhause und anderswo

Malerei, Grafik, Collagen – Vernissage 31.10.2008

Eigentlich ist es nicht ihr Beruf, wohl aber ihre Berufung: Mit Linien und Farben in jeder freien Minute auf dem Papier zu fixieren, was sie ständig innerlich bewegt und äußerlich berührt. Und das ist so, seit sie denken und fühlen kann, und in Worte fassen kann sie weder das Woher und Warum noch das Wohin und Wozu. Aber sie weiß, dass sie sich täglich darin ausdrücken muss, dass Malen und Zeichnen unverzichtbarer Teil ihres Lebens ist. Dr. med. Carmen Lewin-Stern, 1945 geboren in Misdroy, nach dem Medizinstudium in Leipzig und Erfurt seit vielen Jahren in Erfurt als Fachärztin für Innere Medizin tätig – derzeit beim Gesundheitsamt der Stadt Erfurt – ist zwar als Künstlerin Autodidaktin, jedoch langjährig in die Kunstszene der Stadt integriert, seit 1991 Mitglied im Verband Bildender Künstler Thüringen e. V. und aktiv mit Ausstellungen und Ausstellungsbeteiligungen in Erfurt und darüber hinaus präsent, u.a. über Jahre und auch in diesem Jahr (Stand 35) bei der Kunstmesse des VBK, der „Artthuer“. Beeindruckt und inspiriert von ihrem früh verstorbenen Vater, einem realistischen Landschaftsmaler, wurde ihr Leben von Beginn an durch eine bildnerische Weltsicht und die Sehnsucht, selbst künstlerisch tätig zu werden, begleitet. Doch der große Respekt vor der Perfektion des Malervaters lenkte ihr Tun in eine genau entgegengesetzte Richtung: Sie wollte sich frei halten vom Zwang der Ab- und Nachbildung des Gesehenen, dem sie nicht gerecht zu werden fürchtete, wollte statt dessen die Freiheit des experimentellen Spiels mit Linie, Formen, Farben, die zugleich auch eine Befreiung von den Zwängen des Alltags und sogar seine Heilung bedeuten kann – wenn auch nur für die Zeit, während der sie kompromisslos im Bildermachen versinkt. Wichtige Anregungen holte sie sich daher zuerst in Zeichenzirkeln, die ihr das Handwerkszeug vermitteln konnten, aber auch die benötigten Spielräume öffneten, z. B. bei Gerd Uhlmann und Egon Zimpel, aber natürlich stehen daneben auch immer wieder Impulse aus der gesamten Kunstwelt und – damit den entscheidenden Akzent ihres Schaffens bildend – durch architektonische Strukturen, die sie eigenwillig bildnerisch interpretiert.

 

1988/89, in einer Zeit grundlegender Wandlungen auch in dieser Stadt, begibt sie sich mit dem Fotoapparat auf Spurensuche, fasziniert und zugleich betroffen von der verfallenden Altbausubstanz etwa im Andreasviertel. Daneben entstehen schroffe zeichnerische Bestandsaufnahmen; an den Seiten großformatischer Leporellobücher entlang wandern wir neben ihr durch alptraumartiger Gassen und Straßenschluchten. Später dann sind es auch die Erlebnisse anderer Städte in der Welt, die ihren Erfahrungen und Anregungen neue hinzufügen und ihrem Blick in die Welt hinein weiten.

 

Nicht Realismus ist für sie dabei ein Ziel, sondern eher eine ganz individuelle Expressivität, die sich zum einen kraftvoll und bestimmt mit energischen, spröden, großzügig hingeschriebenen Linien und später auch mit starken Farbkontrasten, transparent oder opak gesetzt, den Bildraum erobert, andererseits grafisch sensibel und spielerisch den Formzusammenhängen im Detail nachspürt und wie nebenbei einen Blick hinter die Kulissen der nur scheinbar heiteren und harmonischen urbanen Welt wagt – nachdenklich und witzig zugleich. Sie verbindet dabei die Mittel der Malerei, Grafik und Collage in einer originellen, dynamischen, spontan anmutenden Handschrift zu kühnen Konstruktionen, die wie labyrinthische Baukästen in ständiger Veränderung erscheinen und dabei spannungsreichen ästhetischen Genuss garantieren.

 

Mit dieser ihrer Obsession ist die Autodidaktin zwar nicht allein, jedoch unverwechselbar tritt uns gegenüber, was daraus entsteht. Wildes Temperament und überbordende Fantasie, die ihre Formfindungen und Farbkompositionen ebenso auszeichnen wie nachdenkliche Ambivalenz und nicht selten bis zur Satire zugespitzte Formulierungen, offenbaren die andere Seite einer ansonsten eher zurückhaltend präsenten Persönlichkeit.

 

Dabei eröffnet für Carmen Lewin-Stern seit jeher zunächst die Linie den Weg für den ersten entscheidenden Schritt hinein in die unberechenbare, aber doch zumindest temporär beherrschbare Welt des Bildraums mit seinen unergründlichen Tiefen und unerschöpflichen Möglichkeiten. So arbeitet sie sich nach den Fotostudien zuerst nur zeichnend analytisch und zugleich mit der sinnlich getragenen Leidenschaft des künstlerischen Blicks durch die spröde Architektur des Andreasviertels, wie die schon erwähnten Leporellobücher in rauer, wuchtiger Bildsprache mit ihrem konsequenten Schwarz-Weiss belegen, durch das wir ihre aufmerksame Wanderung durch bewusst aufgegebene Straßen und Räume – seinerzeit ein Politikum, das die Erfurter Bürger kritisch bewegte – begleiten können. Die vorausgegangenen fotografischen Beobachtungen, gezeichnet von der Tristesse des Verfalls, festgehalten in fotografischen Tagebüchern, tragen dagegen eher malerisch-melancholischen Charakter.

 

Marcel Proust schreibt am Ende des 1. Bandes „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit – Unterwegs zu Swann“.

 

Die Städte, die wir gekannt haben, sind nicht nur der Welt des Raums zugehörig, in der wir sie uns denken, weil es bequemer für uns ist. Sie waren nur ein schmaler Ausschnitt aus den einzelnen Eindrücken, die unser Leben von damals bildeten; die Erinnerung an ein bestimmtes Bild ist nur wehmutsvolles Gedenken an einen bestimmten Augenblick; und die Häuser, Straßen, Avenuen sind flüchtig, ach! wie die Jahre.

 

Doch Melancholie bleibt Carmen Lewins Sache nicht. Typisch für ihr Schaffen wird sehr bald über den kraftvollen Strich hinaus, der alle Blätter dominiert und vom Pinsel geradezu spritzt, sprüht, springt, eine konstraststarke, dynamisch, doch auch leicht und öfters gläsern transparent als dicht und lastend aufgetragene klar leuchtende Farbigkeit, die das grafische Gerüst der linearen Strukturen nicht einfach nur dekorativ füllt, sondern neu, frisch, wild und witzig interpretiert: Emotionalität ergänzt Rationalität.

 

Doch hinter den farbschillernden Fassaden scheinen durchaus auch tiefere Bedeutungsschichten voller kontemplativer Nachdenklichkeit und auch so manches Geheimnis verborgen zu sein, vielleicht auch eine grundlegende Sehnsucht nach sicherem Behaustsein – nicht zuletzt im eigenen Ich – aber vielleicht auch Ängste und Unsicherheiten, ob Erreichtes zu bewahren ist in der Wandelbarkeit dieser Welt. Und so mutieren Fenster zu Augen, Tore oder Brückenbögen zu Mäulern, biegen sich Lampenblütenbaumarme wie zupackend herein, rotieren Mühlenschneckenräder – und so manches unserem Kopf assoziativ entsprungene Wesen sollte möglicherweise sicherheitshalber lieber unbenannt und unerkannt bleiben …

 

Aber bei Sigmund Freud oder Karl Gustav Jung kennt sich die Ärztin neben der Künstlerin vermutlich viel besser aus als ich, und ob ihr künstlerisches Tun auch eine Art Gestalttherapie am eigenen Leibe bzw. an eigener Seele ist, soll (wenn wir schon einmal bei den Geheimnissen sind) das ihre bleiben.

 

Vor allem anderen nämlich ist es Kunst, und dafür steht die bildnerische Formulierung unter ästhetischen Kriterien als wichtigstes Argument.

 

Oft genügt allein das Liniennetz tektonischer Strukturen, frisch hingeschrieben wie aus einem Zug, für eine ironische Interpretation der gesehenen, erfahrenen Leibhaftigkeit eines Stadtgebildes oder – und das ist ein weiterer Weg der Wirklichkeitsbewältigung (in dieser Auswahl allerdings kaum vertreten) – auch für eine freie informelle Wiedergabe innerer Bewegtheit, die sich Bahn brechen muss. Zuweilen aber wachsen daraus auch nahezu von selbst ganze Zeichenteppiche, deren Dichte (Aufhören-Können ist hier die hohe Schule!) letztlich auch über die Wertigkeit, Deutung und Vieldeutigkeit jeder Einzelform entscheidet und ein grundlegendes Gefühl für Spannung mittels Textur, Ordnung und Rhythmus voraussetzt, denn hier kann nicht bedacht konstruiert werden, ohne den typischen Charakter des spontanen Spiels zwischen Intuition und Intellekt zu verlieren.

 

Und dann entwickeln sich auch noch neben den nicht nur ästhetisch spannungsreichen Stadt- und Seelenlandschaften aus scheinbar einfachen Bildgeschichten unversehens bizarre Gedankenlabyrinthe mit mehreren Ein- und Ausgängen, in denen skurrile Figurationen agieren, die in Gestalt und Wesen offen und flexibel bleiben wie die mysteriösen Formwandler in Science-fiction-Filmen. Sie auszuformulieren und die wie Spielsteine hingeworfenen Geschichtenfragmente in unterschiedlichste Richtungen weiterzuspinnen, überlässt die Künstlerin mit Augenzwinkern dem Betrachter. Wesenheiten unvorstellbarer Beschaffenheit wirbeln durcheinander, tanzen umeinander über die Bildfläche, bedrängen einander auch zuweilen und fordern unsere Fantasie heraus wie die Erinnerungsfetzen eines wilden Traumes, aus dem wir eben erwacht sind und den wir doch schon wieder zu verlieren drohen. Nur Kunst kann die Brücke zu diesen Welten dauerhaft bauen. Henrik Ibsen bringt es im „Traumspiel“ auf den Punkt: Alles kann geschehen, alles ist möglich und wahrscheinlich. Raum und Zeit existieren nicht. Auf einem unbedeutenden wirklichen Grunde spinnt die Einbildung weiter und webt neue Muster.

 

Genauso herausfordernd gegenüber unserer Erinnerungs- und Assoziationskraft treten die Collagen auf, scheinbar ebenso spontan zusammengewachsen aus zufälligen Fundstücken, doch es ist der selektive Blickwinkel jeder Künstlerpersönlichkeit, der den Glauben an die Macht des Zufalls ins Wanken bringt: Zunächst scheinen nur formale Bezüge die Elemente miteinander zu verbinden wie verwandte Farbtöne, bevorzugt kräftige, reine Grundfarben, oder die rein grafischen Werte von abstrakten, formelhaften Bild- oder Schriftzeichen, bewusst innerhalb einer in ihren Grundzügen wohl doch überlegt wirkenden Komposition als struktureller Kontrast gegen die klaren Farbflächen gesetzt. Aber ob beabsichtigt oder nicht – die Assoziationsfähigkeit der Betrachter wird auch hier zur Quelle ambivalenter Bedeutungsebenen dieser doppelbödigen, oft sogar satirischen Bild-Text-Kompositionen. Das sind Postkartengrüße aus dem alltäglichen Chaos der Medienflut, angereichert mit raren Kostbarkeiten, die z. B. die Affinität der Künstlerin zu historischen Texten, bevorzugt der Barockzeit, einer Zeit der besonders intensiven Auseinandersetzung mit der Vanitas, der Wandelbarkeit und Vergänglichkeit alles Irdischen, verraten.

 

Gedichten etwa von Paul Fleming, Martin Opitz und Andreas Gryphius stellt sie zudem gelegentlich auch eigene Blätter korrespondierend zur Seite.

 

Ihr lebet in der Zeit/ und kennt doch keine Zeit/

So wißt ihr Menschen nicht/ von und in was ihr seyd. …

Der Mensch ist in der Zeit/ sie ist in ihm ingleichen.

Doch aber muss der Mensch/wenn sie noch bleibet/ weichen. …

Ach daß doch jene Zeit/ die ohne Zeit ist kähme/

Und uns aus dieser Zeit in ihre Zeiten nähme.

(Paul Fleming „Gedancken/ über der Zeit“, aus: „Poetische Wälder“)

 

Du aber/ wann du sihest die zarten Blumen stehen/

Gedencke dass auch wir bald blühen/ bald vergehen.

(Martin Opitz „Überschrifft eines Gartens“ 1644)

 

Mein sind die Jahre nicht/ die mir die Zeit genommen/

Mein sind die Jahre nicht/ die etwa möchten kommen./

Der Augenblick ist mein/ und nehm ich den ich acht/

So ist der mein/ der Jahr und Ewigkeit gemacht.

(Andreas Gryphius „Betrachtung der Zeit“)

 

Aber auch der österreichische Altmeister des Skurrilen Ernst Jandl kommt mir unvermeidlich in den Sinn mit seinen kristallinscharf geschliffenen, vieldeutig funkelnden Wortspieltexten, „Herz- und Handgefährte“, wie sie es nannte, der mindestens ebenso sprachmutigen und experimentell ausdrucksstarken Dichterin Friederike Mayröcker. Und auch wenn er meinte, dass das „Gedicht die Rache der Sprache“ sei, möchte ich zu guter Letzt statt weiterer eigener Interpretationsversuche etwas Mayröckersches neben diese Bilder stellen, das in Worten wie Bildzeichen und mit ähnlichem strukturellen Herangehen eine vergleichbare künstlerische Weltsicht formuliert:

 

was brauchst du

 

was brauchst du? einen Baum ein Haus zu

ermessen wie groß wie klein das Leben als Mensch

wie groß wie klein wenn du aufblickst zur Krone

dich verlierst in grüner üppiger Schönheit

wie groß wie klein bedenkst du wie kurz

dein Leben vergleichst du es mit dem Leben der Bäume

du brauchst einen Baum du brauchst ein Haus

keines für dich allein nur einen Winkel ein Dach

zu sitzen zu denken zu schlafen zu träumen

zu schreiben zu schweigen zu sehen den Freund

die Gestirne das Gras die Blume den Himmel

 

Aus der Tiefe

 

Mit dieser Überbürde süsz und herz-zäh wie Blumen

ein einsamer Wassertropfen im schwarzen Ziehbrunnen schwebender Wolken

(eine seidene Monsterprozession schnurgerader sonniger Ameisen

eine endlose Strasze bei Nacht

eine fremde Begrüszung über bernstein-fragenden Tieraugen

 

Gewaltsames leiden die verkerbten Steine von Stonehenge

ein grausiges knarrendes Feld unbändiger Steinheere

horizontal-massige Gehege

harte Gevierte aus Luft

 

Versunken wie Wasser blaszblau ein geahntes gepfähltes Paradies

ein schwimmendes graues Paradies von Wolken gestützt

preisgegeben dennoch: der heimsenden Tiefe

den fischblauen Kanälen den verwirrenden Stegen und Katzen-Brücken

den Morgendämmerungen) beweint bekränzt.

 

eines Lebensabschnittes Bestandaufnahme

 

in meinem Tornister/ ein Thymianstämmchen/ zwei Münzen/ ein stumpfer Bleistift/ zerknitterte Notizen/ Keksbrösel/ eine grüne Wäscheklammer/ die Visitkarte einer japanischen Germanistin/ ein zerbrochener kleiner Kamm/

 

Dalís Ameisen auf einem verschatteten Notenblatt

 

Ich habe / alles 1 × gewuszt aber jetzt habe ich alles vergessen, ich stehe / am Anfang meines Verstandes wie 1 neugeborenes Kind und ich habe / keine Grundfesten (mehr) und keine Erfahrung und stehe am Ende. Und / habe gewartet tage- und wochenlang habe ich gewartet darauf dasz / die Erde sich öffnet und mich verschlingt, aber jeder Morgen speit / mich von neuem aus und ich versuche zurechtzukommen, habe / die Hände von Vater von Mutter die Melancholie

(Friederike Mayröcker 80-jährig in einem ihrer jüngsten Gedichte 2004)

 

Erfurt, 30.10.2008 | Dr. Jutta Lindemann