Harald Lange, Jürgen K. Hultenreich, Stephan Krawczyk

Freiheit – gestern, heute, morgen
Erfurter Rathaus 22.11.08

Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern,/

In keiner Not uns trennen und Gefahr.

Wir wollen frei sein, wie die Väter waren,

Eher den Tod, als in der Knechtschaft leben.

Wir wollen trauen auf den höchsten Gott

Und uns nicht fürchten vor der Macht der Menschen.

 

Der Rütlischwur aus Wilhelm Tell gilt weltweit als ein Manifest der Freiheit, sein Verfasser als deren Dichter schlechthin.

Und für Friedrich Schiller gibt es einen Königsweg dorthin: die Kunst.

 

Er weiss, dass man

… durch das Ästhetische den Weg nehmen muß, weil es die Schönheit ist, durch welche man zur Freiheit wandert,

… denn die Kunst ist eine Tochter der Freiheit.

(Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, 1795, 2. Brief)

Wie verwahrt sich aber der Künstler von den Verderbnissen seiner Zeit, die ihn von allen Seiten umfangen? Wenn er ihr Urteil verachtet. Er blicke aufwärts nach seiner Würde und dem Gesetz, nicht niederwärts nach dem Glück und nach dem Bedürfnis.

… er strebe, aus dem Bunde des Möglichen mit dem Notwendigen das Ideal zu erzeugen. Dieses präge er aus in Täuschung und Wahrheit, präge es in die Spiele seiner Einbildungskraft und in den Ernst seiner Taten, präge es aus in allen sinnlichen und geistigen Formen und werfe es schweigend in die unendliche Zeit.

(Ebenda, 9. Brief)

 

Viele Künstler seit Schiller haben dieses Ideal nach Geist und Buchstaben erfüllt, mit öffentlicher Wirkung oder im Verborgenen, und dazu gehören auch die drei gebürtigen Thüringer, die diesen ungewöhnlichen Abend gemeinsam gestalten:

 

Harald Lange, Maler und Grafiker, Jürgen K. Hultenreich, Schriftsteller, und Stephan Krawczyk, Liedermacher.

 

Mit Abstand am längsten davon kenne ich Harald Lange, nämlich nunmehr über 40 Jahre, und deshalb will ich jetzt vor allem von ihm sprechen und dann nur ein bisschen auf die beiden anderen neugierig machen, denn die haben nachher noch genug Gelegenheit, selbst von sich reden zu machen.

 

Wenn ich bei jemandem von Beginn an erleben konnte, dass er das Prinzip Freiheit mit konsequenter Kompromisslosigkeit verkörpert hat, dann bei ihm.

 

In unserer 1967 für die Fachkombination Kunsterziehung und Deutsch am damaligen Pädagogischen Institut immatrikulierten Seminargruppe war Harald von Beginn an etwas Besonderes, der geheimnisumwitterte Outlaw, das Enfant terrible, der Desparado, der – im Gegensatz zu den meisten von uns – schon eine Biografie hatte, ein Leben voller Erfahrungen, die wir, die wohlerzogenen Abiturientinnen, uns kaum vorstellen konnten.

 

Meine erste eindrucksvolle Erinnerung ist ein Harald mit langen schwarzen Haaren (heute kaum noch vorstellbar …) als Pferdelenker auf dem Bauernwagen beim Ernteeinsatz in Mecklenburg vor Beginn des Studiums im Herbst 67, denn Natur und Tiere waren seit seinen elementaren Erfahrungen in der großelterlichen Landwirtschaft und sind noch heute ein unersetzlicher Teil seines Lebens. Nicht von ungefähr sagt seine Frau Ursel, die große und bist heute dauerhafte Liebe seines Lebens, von ihm: „Setzte man uns auf eine Insel aus, mit dem Man würden wir überleben.“

 

Seine Kunst zeigt daher folgerichtig schon immer und noch heute bis in liebevoll gesehene Details hinein eine tiefe Verehrung vor dem kleinsten Leben, denn er achtet nichts gering.

 

Und Harald blieb weiter in jeder Hinsicht der bunte Hund in unserer KD 67, der manches Mal auch auf uns abfärbte. Sicherlich ist es wesentlich ihm zu verdanken, dass noch nachfolgende Seminargruppen davor gewarnt wurden, so zu werden wie wir. Darüber können wir heute bei einem unserer häufigen Treffen, zu denen uns allen – den „blöden Weibern“ – Harald eine neue Grafik mitzubringen nie vergißt, gemeinsam lachen – damals war das allerdings wohl nicht lustig gemeint.

 

Nicht nur, dass er beispielsweise solche als gefährlich apostrophierten Autoren wie Nietzsche las oder im ML-Seminar die möglicherweise deshalb häufig wechselnden Lehrkräfte regelmäßig in Erklärungsnöte stürzte – nein, er malte auch noch freiwillig und mit Besessenheit ganz anders, als man es uns lehrte. Doch auch sonst deckten sich Haralds Vorstellungen vom Lehrerberuf offensichtlich vom ersten Tag an nicht mit dem Ausbildungsprogramm. Vor allem anderen aber war er mit so konsequenter Leidenschaft Künstler, dass dies bald sein Leben entscheidend bestimmte; Grammatik oder etwa Didaktik konnten ihm dagegen bedeutend weniger Begeisterung entlocken.

 

Harald war so etwas wie der Bohémien vom Fischersand, und in sein abenteuerliches Wohnatelier dort zog es uns immer wieder, um seine neuen Blätter zu sehen oder ungewöhnliche Literatur zu hören, die nicht im Lehrplan stand. Harald und seine Freunde am Fischersand brachten Bewegung in unseren mehr oder manchmal auch weniger braven Studienalltag – fernab von den Konzepten geplanter FDJ-Nachmittage.

 

Unvergessen sind mir Biermann-Lesungen neben unserer kurzzeitig existenten Seminargruppenfahne oder auch die Debatten um den alten abstrakten Maler Meisel und dessen eindringliche Begräbnisfeier, aber auch die heftigen Anwürfe der Hochschulleitung gegen unser eigenes Seminargruppenabzeichen – wegen offenbar gefährlicher Zeichen von „kleinbürgerlichem Separatismus“ und auch eben wegen jenes Wortes „Bohéme“ darauf – vielleicht ein Synonym für eine fast naive, aber unverstellte Sehnsucht nach eben jener Freiheit, die sich für uns irgendwie auch mit dem Künstlerleben um den Pariser Montmartre verband, dem wir uns nahe wähnten, wenn wir mit Malköfferchen, Baskenmütze und langem Schal in Richtung Hügel wanderten. Denn dort öffnete sich auch für uns einmal wöchentlich die Tür zur unendlichen freien Welt der Kunst – wenn auch nur einen Spalt breit. Und zu denen, die sie ein wenig weiter offenhielten, gehörten eigenwillige und ungebrochene Künstlerpersönlichkeiten von verehrungswürdiger menschlicher Größe wie Rudolf Franke – auch für Harald ein wichtiger und noch heute hoch verehrter Lehrer – ebenso wie es dann im gleichen Geiste auch Alfred Traugott Mörstedt wurde – beider sollte daher heute aus diesem Anlass ehrend gedacht werden.

 

Doch für Harald, der sich weit jenseits des Lehrplanes mit Literatur und Philosophie beschäftigte, wurden schon damals grundsätzliche Lebensfragen wichtig, und er suchte auch in der Kunst nach Antworten.

 

Was ist überhaupt Kunst? Das Gute oder das Böse? Kommt sie von Gott oder vom Teufel? Aus der Kraft des Menschen oder seiner Schwäche? Ist sie vielleicht ein Unterpfand für menschliche Gemeinschaft und ein Bild sozialer Harmonie?

Das fragt der große Regisseur Andrej Tarkowskij und antwortet selbst:

Sie ist etwa so wie eine Liebeserklärung. Wie ein Eingeständnis der eigenen Abhängigkeit vom anderen Menschen. Sie ist ein Bekenntnis. Ein unbewusster Akt, der aber den eigentlichen Sinn des Lebens widerspiegelt – die Liebe und das Opfer …

 

Ich bin für eine Kunst, die dem Menschen Hoffnung und Glauben gibt. Je hoffnungsloser die Welt ist, von der ein Künstler erzählt, um so deutlicher wird er vielleicht das ihr entgegengesetzte Ideal erspüren lassen – sonst lohnt es sich nicht zu leben.

 

Harald bringt es heute für sich auf eine ähnliche Formel, wenn er sagt:

 

Meine Überzeugungen zur geistigen Menschwerdung heißen Christentum, Aufklärung und Romantik. Der Wille zur Darstellung war immer dieser Hintergrund, also der Anspruch auf Intellektualität. Letztendlich wurde ich vom Lesen abhängig, eine günstige Droge. Grübeln und arbeiten sind das Resultat. Leichtfertigkeiten und Schleimscheißereien sind mir fremd.

 

Zwingend war und ist Harald also nicht nur mit ganzer Seele Künstler, sondern auch ein Zoon politicon, der sein Herz auf der Zunge trägt. Das brachte ihm seinerzeit naturgemäß nicht nur Freunde ein. Obwohl er nach einem externen Kunststudium in Leipzig und Aufnahme in den VBK als freiberuflicher Künstler und Familienvater in Erfurt Mitte der 70er Jahre seinen Platz fürs Leben gefunden zu haben glaubte, blieb ihm rund 10 Jahre später nach Verfolgungen und zum Teil handgreiflichen Verhören durch die Stasi wegen eines missverstandenen Grafikzyklus, dessen Druckplatten eingezogen und vernichtet wurden, nur noch – aus familiären Gründen statt des Westens – die „kleine Flatter“ in den Norden, nach Vorpommern.

 

Doch obwohl ihm seine Mühle eine echte Heimstatt geworden ist – die Fäden nach Erfurt sind nie abgerissen, die Wurzeln wurden nie ausgegraben, und unser aller Leben sind – durch das Vergangene, das doch nie ganz vorbei ist, aber auch durch die Kunst – noch miteinander verbunden.

 

Blätter von Harald haben mich prägend durch meine wechselnden Wohnungen begleitet: von farbglühenden Aquarellen aus den 70ern mit mystischer Personage auf feintexturierten Fonds über tonig schwarzweiße Radierungen und Lithos aus den 80ern voll mythologischer Gestalten und Fabelwesen, verschmolzen mit fantastischen Landschaften, gefügt aus feinsten, tief verdichteten grafischen Zeichen von malerischer Differenziertheit bis hin zu intensiv beobachteten kleinen feinen Naturstudien. Das Zeichnen, die geistige Überhöhung von Gesehenem oder Gedachtem durch den unendlichen Ausdrucksreichtum der empfindsamen Linie, steht seit jeher im Mittelpunkt seines künstlerischen Herantastens an die große Wahrheit im Geist der Erfurter Schule eines Franke und Mörstedt, der er sich noch immer zugehörig fühlt. Ein Element, das Schneckenhaus, begleitete dabei charakteristisch und bedeutungsvoll viele Jahre lang sein Schaffen.

 

Haralds Themenkreise entstammen neben der Natur als Symbol für die Achtung vor dem Leben ausschließlich der Geschichte und Literatur, wobei, wie er selbst sagt, ähnlich dem Simultanschach sowohl die Themenbereiche als auch unterschiedliche Gedankenebenen einander überlagern und dadurch ambivalente Deutungsmöglichkeiten aufbrechen, aber auch wie in jeder guten Kunst Geheimnisse offen lassen. Und nachdem er sich in den 60er und frühen 70er Jahren noch von der Formensprache etwa der Nabis inspirieren und dann eine Nähe zur Wiener Schule erkennen ließ, schälte sich aus diesen Hüllen das Eigene in der Rückkehr zu den Quellen, zur Bewahrung des Ehrlichen, Einfachen, Klaren in der Grafik wie in der Malerei.

 

Nicht oft präsentierte Harald Lange sich in der Öffentlichkeit; noch stolz ist er in der Erinnerung der DDR-Zeit auf eine Ausstellung in der legendären Galerie am Sachsenplatz in Leipzig und Ausstellungsbeteiligungen zur Antikerezeption.

 

Umso wichtiger ist es, dass er hier heute dabei ist, mit seinen Freunden Jürgen Hultenreich und Stephan Krawczyk, die eine gemeinsame Sehnsucht verbindet, der jeder von ihnen auf besondere Weise sein Leben gewidmet hat.

 

Jürgen K. Hultenreich und Stephan Krawczyk haben selbst die Macht der Worte auf ihrer Seite, daher will ich weniger davon machen, um nicht in Verdacht zu geraten, mich mit ihnen messen zu wollen – nur soviel, dass Sie ein wenig neugierig werden.

 

Jürgen K. Hultenreich, Jahrgang 1948, seit 1985 in West-Berlin ansässig, ist noch immer Erfurter mit Leib und Seele, obwohl beides schon in jungen Jahren in seiner Geburtsstadt Schaden nahm, als er mit 17 wegen eines Fluchtversuchs verhaftet wurde und später in der psychiatrischen Klinik Pfaffenrode dem Tod knapp entging. Die Worte des von ihm nicht nur hoch verehrten, sondern ihm auch gut vertrauten Dichters Schiller halfen ihm in vielerlei Hinsicht zu überleben – sein nach diesem grundlegenden Erlebnis entstandenes Buch „Die Schillergruft“ ist eine Gratwanderung zwischen bitterer Verzweiflung und lebensvollem Humor, satirisch und surrealistisch zugleich, eine Sichtweise, die viele seiner leider immer vergriffenen Arbeiten trägt, auch den poetischen Reiseführer „Mein Erfurt“ und viele andere literarische Kostbarkeiten.

 

Stephan Krawczyk, 1955 in Weida geboren, nach einem Musikstudium in Weimar langjährig bei der Gruppe Liedehrlich und 1981 sogar Preisträger beim DDR-Chansonwettbewerb, konnte zunehmend mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg halten, wurde nach Auftrittsverboten und jahrelanger Überwachung und Drangsalierung durch die Stasi 1988 verhaftet und schließlich in die Bundesrepublik abgeschoben. Seine raue, bisweilen harte Sprache in Büchern, aber auch im ungeschönten Vortrag zu Gitarre und Bandonium verbindet sich mit tiefer Sensibilität für alle Ungerechtigkeiten und Verletzungen der Menschenwürde und großer Lebenslust in allen ihren Facetten.

 

Aber lassen Sie sich selbst im Kopf bewegen und im Herzen berühren durch ihre selbst gesprochenen und gesungenen Texte – und bewahren Sie Harald Langes Bilder noch lange im Kopf.

 

Freiheit, die ich meine … schrieb Max von Schenkendorf 1813.

 

Unbekannt blieb der Autor eines Liedes aus dem späten 18. Jahrhundert, dessen Kernmotiv schon bei Walther von der Vogelweide zu finden ist und das noch heute zu meinen Lieblingsliedern gehört:

 

Die Gedanken sind frei. Wer kann sie erraten?

Sie fliegen vorbei wie flüchtige Schatten.

Kein Mensch kann sie wissen, kein Jäger erschießen.

Es bleibet dabei: Die Gedanken sind frei. …

Und sperrt man mich ein in finstere Kerker –

Das alles sind rein vergebliche Werke,

Denn meine Gedanken zerreissen die Schranken

Und Mauern entzwei: Die Gedanken sind frei!

 

Freiheit denken ist der Anfang von allem.

 

Erfurt, 22.11.2008 | Dr. Jutta Lindemann