Auch ohne jeglichen biografischen Hinweis spürt man nach dem ersten Blick auf diese Bilder in Komposition und Formsprache ihr eindringliches exotisches Flair:
Es spiegelt sich darin eine jahrtausendealte Welt bizarrer magischer Mysterien, wie sie uns auch aus der abenteuerlich schillernden Literatur voll skurriler Phantasie etwa eines Gabriel Garcia Marquez entgegen leuchten.
Zwar trägt ein scheinbar lockeres Spiel mit den Formen über die oft schwermütig glühende Farbigkeit hinweg, doch fließen diese Farbströme in Kanäle mit dunklen Ufern wie alte Bleistege gefasst über die Bildflächen, und in den entstehenden Zellen und Bahnen, die sich zu Gebilden wie verwunschene Städte oder Gärten fügen, entfaltet sich eine uralte geheimnisvolle Ornamentik, aus deren Labyrinthen – gebändigten Dschungeln – erst der konzentrierte Blick des Betrachters Gesichter, Getier, Gebäude, Gesträuch befreit.
Einander parallel begleitende Linien in strengem Rhythmus führen uns zu den steinernen Spuren in alten Aztekenpalästen oder den nur aus großer Höhe erkennbaren riesenhaften Bildzeichen, deren wahre Bedeutungen, über die heute Wissenschaftler immer wieder spekulieren, mit ihren Schöpfern in der Geschichte versunken sind, über deren zeitlose Schönheit jedoch ihr Geist bis heute in uns nachzuwirken vermag.
Die Bilder von Eva Maria Thiele, die in diese Welt für Jahrzehnte eintauchen konnte, scheinen uns wie die Träume, die im Morgengrauen kurz vorm Erwachen für kurze und sofort wieder verlorenen Momente Unfassbares aus unserem Innersten ans Licht heben – Ahnungen uralter Mythen und Legenden, die in unserem Unterbewusstsein ein mystisches Eigenleben führen und deren Herkunft verwirrend unklar bleibt.
Zuweilen scheint der Zauber aber auch absichtsvoll gebrochen, vielleicht, um vor seiner Kraft zu schützen. Dann wird Ironie und Witz ins Feld geführt oder ein realistischer Gegenstand konterkariert die ornamentalen Strukturen, schafft für einen Augenblick eine Fluchttür in eine neue Ebene des Traums.
Und doch können wir uns dieser Welt nicht entziehen – und weshalb sollten wir das auch, denn die Bilder sind neben aller bodenlosen Hintergründigkeit auch purer Sinnengenuss.
Eva-Maria Thiele ist eine Malerin, die auf eine langjährige und breit gefächerte Erfahrung in Theorie und Praxis zurückblicken kann, die sie unter anderem ihrem 20-jährigen Mexikoaufenthalt verdankt.
Sie studierte in Leipzig Kunstgeschichte und war bis zu ihrer Ausreise Anfang 1979 als freie Kunsthistorikerin tätig, u.a. als Autorin beim Allgemeinen Künstlerlexikon. Zu ersten Ansätzen, sich auch selbst in der bildenden Kunst zu versuchen, kam es schon früh. Sie ergaben sich aus der Zusammenarbeit mit dem spanischen Maler José Renau, der sich nach langen Exiljahren in Mexiko in Ost-Berlin niedergelassen und sich vor allem durch Wandbild- und Fotomontagenprojekte einen Namen gemacht hatte. Auch Erfurt kann sich glücklich schätzen, über eine der besten Arbeiten aus seiner Hand zu verfügen. Reisen durch Mexiko und ihr Interesse für Kunst und Kultur brachten sie in Kontakt mit vielen zeitgenössischen Künstlern, gaben ihr aber auch die Möglichkeit, sich als kunsthistorische Forscherin und Kuratorin für bedeutende Museen zu profilieren.
Die umfassendste bildkünstlerische Ausbildung erhielt Eva-Maria Thiele wohl bei dem 1908 geborenen und 2003 gestorbenen Maler und Bildhauer Alfredo Zalce, der nach den großen Wandmalern Orozco, Rivera und Siqueiros zur zweiten Generation der modernen Künstler Mexikos gehört. Während ihres zehnjährigen Aufenthalts in Morelia stand dessen Atelier immer für sie offen. Dort entstanden auch erste Skulpturen, die die Künstlerin im Endstadium immer als bemalte Objekte präsentierte. Zalce selbst hat in einem Kommentar über Eva-Maria Thieles Arbeit von der „Vielfalt und Qualität ihrer Produktion“ gesprochen, die vom Tafelbild in Öl und Acryl über Mischtechniken auf handgeschöpftem Papier bis hin zur Objektkunst reicht.
Aus dieser Biografie heraus verbindet Eva-Maria Thiele Einflüsse europäisch-deutscher Kunst mit mexikanischer Tradition. Ihre Motive entnimmt sie meist der Natur, die in expressiv-poetischer Verwandlung träumerische Bildfindungen ergeben. Doch tief geprägt ist sie von den Eindrücken historischer und zeitgenössischer lateinamerikanischer Kultur, und auch eine Verwandtschaft zum vielfältigen Oeuvre von Friedensreich Hundertwasser scheint erkennbar.
Die stets lebhaften, warmen Farben, oft durch dunkle Linien konturiert, erinnern aber ebenso auch an mittelalterliche Glasmalerei.
Ihre Bilder – heiter und abgründig zugleich – stellen sich in dieser ungewöhnlichen Konstellation als ein eigenständiger, sensibler und aussagekräftiger Beitrag zur zeitgenössischen Kunst dar, der dem Betrachter sicherlich nachhaltig im Gedächtnis bleibt.
„Nicht was wir gelebt haben, ist das Leben, sondern das, was wir erinnern und wie wir es erinnern, um davon zu erzählen.“
Marquez‘ Motto vor seine Autobiografie „Leben, um davon zu erzählen“)
Erfurt, 30.06.2009 | Dr. Jutta Lindemann