Solveig Nawroth & Stefan Schadewaldt

Neue Arbeiten

Begrüßung Vernissage Vorderhaus Krönbacken 04.07.2009

Worum geht es eigentlich? Das ist eine typische Frage, betritt man eine Ausstellung wie diese – die wohlweislich ohne Titel geblieben ist, um uns noch mehr auf die Folter zu spannen! Ganz schön gemein – so muss eben jeder selber denken …

 

Ich für meinen Teil habe mir gedacht: Es geht zum Beispiel um Papier – und alles, was man damit machen kann: natürlich darauf malen und zeichnen, da muss es sich dann eben der Herrschaft der Farben und Formen beugen, ihnen dienen – dazu später noch ein paar Überlegungen. Aber man kann es auch ehrfurchtsvoll als ein Material behandeln, das seinen eigenen Kopf hat und mal widerborstig ist und mal geschmeidig, mal derb und roh und mal zart und fein, mal in höchstem Glanze erscheint und mal lumpig rauh, sich bei Nässe ärgerlich krümmt und bei Trockenheit zornig reißt, allerdings nur unter Androhung oder notfalls auch Anwendung von Gewalt. Und dann offenbaren sich ganz neue expressive Dimensionen …

 

Die Forschergruppe Nawroth/Schadewaldt hat eine Versuchsreihe gestartet, in der sie, als Künstler getarnt, sich lustvoll dem gewählten Medium hingeben – ein paar Expeditionen in die Nachbarschaft inclusive. Die Versuchsanordung ist großräumig überschaubar, aber in jedem Laborraum läuft ein anderes Experiment: Dort wächst aus einem Gitterwerk von Aquarellbändern, unter denen große Papierbahnen sich willig wellen, ein Modellmensch übergroß aus der Wand, hier stellt sich ein großzügig formuliertes geometrisch-kubisches Gebilde auf straffem, glattem Fond einer wild anmutenden, doch durchdacht gebauten großformatigen Assemblage aus ziemlich heftig gerissenen, wie spontan montierten und kraftvoll übermalten Papierfragmenten entgegen. Das kunstvolle Tun eines Wespenkollektivs analysiert scheinbar eine übergroß dimensionierte wabenartige Kapsel aus feinsten weißen Streifen, und Drucktexte werden durch Faltungen verfremdet und ganz in guter alter Dada-Tradition zu neuen surrealen Bedeutungen geführt.

 

Papier schwingt sich zu ungeahnten plastischen Konfigurationen auf – dabei verbleibt vieles im Stadium einer Studie und bleibt damit offen für weitere Interpretationen und Transformationen.

 

Lässt man sich auf diese anscheinend direkt aus dem momentanen Einfluss innerer Eingebungen entstandenen Formfindungen ebenso spontan ein, werden Energien spürbar, die vom transzendenten Miteinander der Linien, Flächen und Körper ausgehen und sich in Symbiosen mit dem starken Raum noch potenzieren, ihr Ausbrechen und Pulsieren wird visualisiert, und auch ihr stiller Rückzug ins Innere.

 

Das ist kein Zufall, denn diesen Raum für ihre Arbeiten zu wählen, war die erste und grundlegende konzeptionelle Entscheidung der beiden Künstler. Die gebürtige Erfurterin Solveig Nawroth konnte bereits im Kontext anderer Expositionen, etwa der Erfurter Malschule und der Künstlerinnengruppe Ü50, die mit Absolventinnen der Malschule kooperierte, die Raumwirkungen der Galerie Waidspeicher erkunden, doch zusammen mit ihrem ehemaligen Kommilitonen an der Kunsthochschule Dresden, dem in Jena geborenen Stefan Schadewaldt wollte sie ihre Kunstgeschöpfe als temporäre Bewohner in einen Raum stellen, der in seinen menschlichen Dimensionen noch eindringlicher und ursprünglicher die Lebensschichten von Generationen verknüpft, und damit in ein Kraftfeld, das sich aus dem spirituellen Beziehungsgeflecht zwischen Gegenwart und Vergangenheit entwickelt. So dienen sie als Wegbegleiter auf der Suche nach unseren Wurzeln und stärken sich zugleich selbst an diesen uralten Quellen. Doch Schadewaldts skulpturale Objekte verfolgen noch eine weitere Logik, die letztlich auch Nawroths transparente grafische Gebilde trägt: Körper im Raum wird zu Raum im Raum. Das flexible, transluzide Material Papier dient der Auseinandersetzung mit den Phänomenen des Raumes, beispielsweise mit dem Verhältnis zwischen Innen- und Außenraum und den Möglichkeiten, sie durch Öffnungen miteinander zu verbinden und damit zu versuchen, ohne sich vom äußeren Schein etwa einer farbigen Behandlung blenden zu lassen, das Geheimnis des Inneren zu lüften. Und nun wird auch der Schwierigkeitsgrad erhöht: Das leicht handhabbare Papier wird durch seine gewichtige Mutter Holz ersetzt – kompakt, schwer, und von festem Charakter. Schlichte, strenge Konturen scheinen zunächst den Anspruch nivellieren zu wollen, doch Bemalung steigert die Erwartung wieder, und im kontemplativ-magischen kleinen Kellerraum verwandelt unsere Phantasie die Kisten in märchenhafte Schatztruhen. Doch was sie wirklich entdecken lassen, kann nur dann auf den ersten Blick banal erscheinen, wenn der Betrachter der ursprünglichen, kindlich naiven Freude an sehr einfachen und klaren Wahrheiten verlustig gegangen ist: Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose – und ein Raum ist ein Raum ist ein Raum – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Und nur er selbst ist der Schatz, der gefunden werden sollte.

 

Diese Ausstellung lässt uns schließlich mit uns selbst zurück, und es liegt an und in uns, wie sehr uns die Erfahrungen bereichern können, die wir in Betrachtung des über den Kunsteingriff neu interpretierten und damit auch ganz neu entstandenen Raumgefüges mit uns selbst machen. Und damit stellt sie sich letztlich bewusst in den lichten Schatten des nicht nur in Erfurt so nachhaltig bis in die Gegenwart wirkenden mittelalterlichen Mystikers Meister Eckhart, der meinte:

 

Willst du den Kern haben, so musst du die Schale zerbrechen.

… so müssen die Gleichnisse alle zerbrechen, und je weiter man hineintritt, umso näher ist man dem Wesen.

(Predigten 102 – Von der Natur)

 

Erfurt, 2. Juli 2009 | Dr. Jutta Lindemann