„Im Leben das tägliche Geheimnis zu entdecken, und in der Alltäglichkeit, in der vertrauten Landschaft, in den Dingen und Gegenständen, die auf einem Tisch herumliegen, die liebenswürdige oder tragische Seite wahrzunehmen, das beweist beim Künstler eine nicht alltägliche Gefühlskraft.“
Wenn jemand jemals über eben diese Kraft verfügte, dann Gisela Richter, an die wir mit dieser Ausstellung erinnern wollen.
Meine Überlegungen zu ihrem Leben und Wirken begleiten Gedanken des ihr augenscheinlich im Wesen nahe stehenden französischen Malers Maurice de Vlaminck, die nach meinem Empfinden in erstaunlicher Weise Gisela Richter menschlich wie auch künstlerisch beschreiben, und das nicht nur, weil ihre Seele von französischem Geist vereint mit italienischer Sinnenlust erfüllt war.
Am 16. Februar 2010 hätte sie ihren 70. Geburtstag gefeiert; statt dessen erinnerten zu diesem Termin Freunde und Künstlerkollegen mit einer Ausstellung in der Galerie Creutzburg an die vor nunmehr schon zwei Jahren, am 6. November 2008, mitten aus ihrem intensiven Künstlerleben gerissene Erfurter Malerin und Grafikerin. Doch nicht nur ihr jäher Tod, sondern vor allem ihre beeindruckende künstlerische Hinterlassenschaft forderten eine weitere und etwas größere Retrospektive ihres umfangreichen Schaffens auf den Gebieten Malerei, Grafik und Email in ihrer Heimatstadt Erfurt heraus: Hier nun wird auf beiden Etagen eine Auswahl aus Arbeiten der letzten 40 Jahre präsentiert, die Positionen und Entwicklungslinien ihrer charaktervollen Künstlerpersönlichkeit ebenso sichtbar macht wie das reiche Spektrum ihrer Ausdrucksmöglichkeiten von der zartesten zeichnerischen Beobachtung Thüringer Landschaften über fließende Aquarelle vom Wolgaufer und expressive abstrakte Kompositionen auf Email bis hin zur kraftvollen großformatigen Farbexplosion nach Impressionen von Italienreisen.
Blickt man auf die 70er Jahre, als Gisela Richter mit größeren Formaten – Thüringer Landschaften – malerisch hervorzutreten beginnt, so wird bereits im behutsamen Herantasten an das Strukturelle, die charakteristische flächige Dimension, die skulpturale Körperlichkeit und die farbige Präsenz zwischen Licht und Nacht von Felsen, Bäumen, Wiesen, Wegen eine unverwechselbare, voraussichtlich dauerhaft tragende Kraft spürbar, die den verhaltenen bildnerischen Formulierungen bereits eine unverwechselbare Gestalt verleiht. Hinter den noch eher transluzid verfließenden, die Formen umgleitenden farbigen Grautönen dieser frühen Landschaften zwar noch verborgen ist das energische Leuchten entschieden pastos gesetzter Farbkörper der folgenden Jahrzehnte, doch die ersten Zeichen sind unübersehbar: Konturen werden bereits machtvoll straff gebündelt – ohne Rücksicht auf die unwesentliche Kleinteiligkeit pittoresker Details, Farben verlassen sukzessive die sichere Straße der puren Wiedergabe von Außenwelt zugunsten des risikoreichen Pfades hin zum Ausdruck von Innenwelt durch den dunklen Dschungel von Gefühl und Erfahrung.
Der Weg aus einer lustvollen impressiven Kontemplation von Gesehenem in die schmerzhafte expressive Vivisektion von Gelebtem hat sich unumkehrbar eröffnet, das nun tiefere Sehen jedoch bleibt für immer unverzichtbare Basis.
Schillernder wird in der Folge die Ambivalenz ihrer Figurationen: Ein Korpus sei Mensch oder Fels, sei Stein, Frucht oder Blüte – das ist nicht wirklich wichtig, wohl aber das Zueinander der Dinge und Wesen, ihr Miteinander-Sein und Einander-Verlieren zwischen Licht und Schatten, zwischen Gewalt des Gelb und Schwere des Schwarz, Rotlust und Blautrauer. Wasser durchströmt Ufersäume wie sich Wege zwischen Feldrainen dahin wälzen und Straßen an Fassaden entlangwinden – wichtig daran ist nur, die Macht der Bewegung zu empfinden, ihre Unermüdlichkeit, mit der Hindernisse bewältigt werden, und ihre unaufhaltsame Urgewalt, die sich notfalls auch neue Bahnen bricht.
„Ich steckte mir kein anderes Ziel als dies: mit Hilfe neuer Mittel die tiefen Beziehungen auszudrücken, die mich mit der alten Erde verbanden. Ich war ein zärtlicher, ungestümer Barbar. Keiner Methode verschrieben, übersetzte ich nicht eine künstlerische, sondern eine menschliche Wahrheit“, entdeckte de Vlaminck.
War das auch Gisela Richters Weg? Die auf den ersten Blick sich harmonisch gebende, aber durchaus an Dissonanzen reiche Thüringer Landschaft bot ihr zunächst ausreichend Inspirationen, ebenso widersprüchliche innere Prozesse künstlerisch zu durchleben.
Doch da gab es auch seit langem noch diesen großen Traum …
Voll warmherzig umfassender Liebe, aber auch lustvoller Leidenschaft erlebte die Künstlerin vor allem in ihrem Sehnsuchtsland Italien vom nur scheinbar unscheinbaren Stein bis zur unfassbar üppigen Blütenfülle und der Leuchtkraft des Lichtes alles mit größter Intensität. Was sie in Thüringen mühsam in sich eingesogen hatte – hier stürmte es mit Macht auf sie ein. Die dort wieder und wieder in vollen Zügen getankte Energie des überbordenden Bilderlebens konnte sie, getragen von einem starken Kunstwillen, gebrochen und bereichert durch die Höhen und Tiefen des eigenen Erlebens bis ins Erfurter Atelier hinein mitnehmen und mit Farbgewalt auf die Leinwand verströmen. Dafür brauchte sie viel inneren und äußeren Raum, deshalb wurden die Erfurter Künstlerwerkstätten zu ihrer zweiten Lebenswelt, wo sie seit Jahren einige kleinere Räume als Daueratelier und bei Bedarf auch das Großraumatelier für ihre nahezu explosiven Schaffensräusche nutzte.
Doch vor diesem stets die letzten Kräfte fordernden Aufstieg zum Gipfel eines immer wieder unvergleichlichen Schöpfungsaktes standen die berühmten Mühen der Ebenen: das ganz besonders aufmerksame Hinsehen, das ungewöhnlich tiefe Wahrnehmen, das konzentriert im Zeichnen Festhalten. Nichts konnte ihrem Blick entgehen, sie war eine Detektivin der Liebe zum Leben in allen seinen Facetten, die sicherlich ganz besonders geprägt war durch die seit vielen Jahren am eigenen Leibe schmerzvoll erfahrene Nähe zum Sterben.
Dass Gisela Richter sich dabei zwischen Zeichnung, verschiedenen Techniken der Druckgrafik und Malerei, aber auch in Collage und Übermalung mit gleich hohem Qualitätsanspruch, doch sich stets weiter entwickelnden inhaltlichen Intentionen und Konzepten sicher bewegte, versteht sich von selbst – hinzu erobert wurden in den letzten Jahren die spezifischen Werte und Potenzen des Emails, das malerische mit grafisch-zeichnerischen Aspekten ganz selbstverständlich zusammenführen kann.
Dieses Prinzip, das der Gegensätzlichkeit von Konzepten ebenso Raum gibt wie dem Gedanken der stetigen Evolution auch des individuellen Kunstkonzepts, erprobte sie bereits erfolgreich bei den kompromisslosen Übermalungen eigener Druckblätter. Hier lagert sich farbkräftig malerische Neuinterpretation über die Erinnerung in sensiblen grafischen Notizen und stellt so ganz selbstverständlich zuerst für gültig Befundenes in Frage oder entdeckt neue Aspekte im Einstigen – eine besondere Methode der Kreativität, die Verluste produktiv macht.
Dabei scheint die in allen Genres nur leicht variierte Welt ihrer Motive – Berglandschaften, Steinstrände, Felshänge, Gartendschungel, Wellenwildnis, Stilleben, oft auch sukzessive in freie Strukturgefüge transformiert – auf den ersten Blick zu begrenzt, um den Reichtum ihrer Erfahrungen in der äußeren wie auch ihre Erlebnisse in ihrer eigenen inneren Welt, die einander osmotisch durchdringen, angemessen spiegeln zu können.
Doch ihr ist im Leben wie in der Kunst jeder einzelne Fund eine Kostbarkeit, die zu betrachten und zu bewahren sich lohnt: Gisela Richters von großer innerer Stärke und zugleich sicher beherrschtem Handwerk getragene künstlerische Sensitivität lässt daraus klar formulierte und doch fein ziselierte grafische Pretiosen entstehen, und ihre riesenhaften Gemälde werden zu Altären der Huldigung an die unzerstörbar strahlende Pracht des Lebens, die sie auch in auf den ersten Blick unspekulären Dingen und Situationen begeistert zutage feiert. Dass ihr dabei neben den sonnenglühenden Ockersteinbrüchen der Toskana das mythenschwer schillernde Kanallabyrinth Venedigs porträtwürdig wurde, ist vermutlich ebendieser aus den Kämpfen des Inneren erwachsenen Lust am Widersprüchlichen geschuldet – Postkarten-Idyllen fanden keine Gnade vor ihren Augen und keinen Weg in ihr Herz, für das jubelnde Freude ohne grüblerische Tiefe undenkbar war.
Dem als Ausdrucksfeld individuell neu erarbeiteten Industrieemail, für das Gisela Richter anders als in Malerei und Grafik meist eine konsequent informelle Struktur von vorherein zur Grundlage der Bildidee wählte, kommt dabei das Verdienst zu, dem Wort als Informationsträger und der Schrift als grafischem Zeichengefüge in ihrem Schaffen Raum gegeben zu haben.
So wie sie sich hier – im Gegensatz zur kontrollierbaren Organisation eines Gemäldes oder Druckes – einerseits lustvoll der manchmal auch risikovollen elementaren Spontaneität des Experimentellen beim Email hingab, arbeitete sie andererseits rational und intellektuell anspruchsvoll an vorwiegend lyrischen Texten in verschiedenen Sprachen und schlug so eine fragile Brücke zwischen den Königskindern Gedanke und Gefühl.
Läßt man sich von dieser gezwungenermaßen bruchstückhaft bleibenden Zusammenschau der Bildzeugnisse eines prallvollen Künstlerlebens mitnehmen auf eine ungewöhnlichen Reise des Erfahrens und Erlebens von Wirklichkeit als Hülle der darunter verborgenen und durch Kunst zu entdeckenden Wahrheit, kann man fast körperlich spüren, wie alle Widersprüche, Brüche und Verluste durch die Kraft eines kernehrlichen Charakters eingebunden werden in die höhere Einheit einer überraschenden Harmonie, die das Leben über alle Tiefen, alle Verzweiflung und selbst über die Grenzen des Todes hinweg zu feiern vermag, und das mit jedem Pinselstrich.
Mit der Fülle ihres nachgelassenen Oeuvres, dem Gedenken an eine unvergessliche Persönlichkeit und den abschließenden Gedanken Maurice de Vlamincks soll über das dadurch vielleicht neu inspirierte eigenen Hinschauen und Nachdenken eine von vielen möglichen Spuren gelegt werden hin zum ganz besonderen und sicherlich nie vollständig ergründbaren Wesen der Gisela Richter, damit sie in uns so auf unendlich vielfache Weise lebendig bleibt:
„Den jungen Malern vermache ich alle Blumen auf dem Felde, die Ufer der Bäche, die weißen und dunklen Wolken, die über der Ebene dahinziehen, die Flüsse, den Wald und die großen Bäume, die Hügel, die Landstraße, die Dörfchen, die der Winter mit Schnee bedeckt, alle Wiesen mit ihrer herrlichen Blumenpracht und auch die Vögel und Schmetterlinge. …
Müssen wir uns nicht manchmal darauf besinnen, daß gerade diese Güter, diese unschätzbaren Güter, die jedes Jahr von neuem wachsen, erblühen, erzittern läßt, daß diese Güter, das Licht und Schatten, die Farbe des Himmels und des Wassers, uns als unschätzbares Erbe zu Meisterwerken anregen?…
Haben wir all das genügend genossen? Werdet ihr es genügend bewundern, werdet ihr jene Erregung, die in der aufsteigenden Morgenröte, im Tag, der nicht wiederkehrt, liegt, voll empfinden, um den tiefen ewigen Eindruck auf der Leinwand festhalten zu können?
Ich habe nie etwas verlangt. Das Leben hat mir alles gegeben.
Ich tat, was ich konnte; ich malte, was ich sah.“
Halle/Erfurt im November 2010 | Dr. Jutta Lindemann