90 Jahre später

Laudatio zur Vernissage Walter-Gropius-Schule 20.11.2009

Eigentlich gibt es nur noch eine Hymne, die in diesem nach bestem Wissen und Gewissen mit aller Macht als Rundumschlag gefeierten Jubiläumsjahr gesungen werden kann:
„Lebt denn das alte Bauhaus jetzt noch, Bauhaus jetzt noch, Bauhaus jetzt noch, lebt denn das alte Bauhaus jetzt noch, Bauhaus jetzt noch?
Jaaaaaaaaaaaaaaaa, es lebt noch, es lebt noch, es lebt noch!
Jaaaaaaaaaaaa, es lebt noch – lebt noch, stirbt nicht!“

 

Aber es geht natürlich auch anders:
„Heute weiß jeder Bescheid:
Wohnungen mit viel Glas- und Metallglanz: Bauhausstil.
Desgleichen mit Wohnhygiene ohne Wohnstimmung: Bauhausstil.
Stahlrohrsesselgerippe: Bauhausstil.
Lampe mit vernickeltem Gestell und Mattglasplatte als Schirm: Bauhausstil.
Gewürfelte Tapeten: Bauhausstil.
Kein Bild an der Wand: Bauhausstil.
Bild an der Wand. aber was soll es bedeuten: Bauhausstil.
Drucksache mit fetten Balken und Grotesklettern: Bauhausstil,
alles kleingeschrieben, bauhausstil.
ALLES GROSSGESPROCHEN: BAUHAUSSTIL.
Bauhausstil: ein Wort für alles.“

 

Na gut, ich gebe zu, das ist geklaut, und zwar gleich doppelt: Gesagt wurde es 1929 von Ernst Kállai, und zitiert habe ich es aus der Einführungsrede des Leipziger Kunsthistorikers Rainer Behrens zur Vorgängerausstellung hier im Haus. Aber kann man es besser sagen? Noch heute oder eigentlich heute umso mehr hat sich dieses Klischee verfestigt und sukzessiv das lebendige Erbe unzugänglich für jeden kreativem Zugriff eingemauert.

 

Aber es gibt ein Gegengift, um den Geist des Bauhauses, nicht seine formale Hülle, produktiv am Leben zu halten, einen Sprengstoff für die Gruft des Bauhauses. Und das heißt: Herausfinden, was wirklich gemeint war, alles unkonventionell, neu denken, was damals gedacht wurde – und dann: Selber machen!

 

Genau auf dieser Spur bewegt sich – nomen est omen und kein Zufall – die Walter-Gropius-Schule Erfurt mit sichtbarem Erfolg.

 

Allein schon das komplex angelegte Ausbildungsprogramm greift die Grundidee des Bauhauses auf, alle Gestaltungspotenzen des freien und angewandten Bereiches unter gleichen Grundprämissen in gemeinsamen Aufgaben zusammenzuführen, auch wenn das gemeinsame Dach der Architektur fehlt – als da sind: Druckgrafik, Zeichnen, Illustration, Farbe, Fotografie, Video, 3-dimensionales Gestalten (Papier, Keramik, Metall, Modellbau, Objekte), Schrift, Typografie, Bildschirm-, Produkt- und Raumgestaltung.

Schon während der Ausbildung können alle aufeinander ein- und miteinander wirken – und wie das in der Praxis dann auch funktionieren könnte, wird bei jeder Präsentation wie dieser immer neu erprobt: Markenzeichen der Gropiusschule ist von der ersten der bisher vier Ausstellungen in diesem Haus an für mich auch eine gründliche und komplexe Vorbereitung, die alle und alles in ein harmonischem Miteinander einbezieht (das Widersprüche nicht ausschließt, sondern produktiv nutzt) – und damit dem sprichwörtlichen Individualismus der Protagonisten des Vorbildes und allen daraus erwachsenden Konsequenzen – glücklicherweise – entgegensteht.

 

Das Bauhaus war, so Rainer Behrens, „1919 aus dem Zusammenschluß von Kunstgewerbeschule und Kunstakademie in Weimar eine Kunstschule neuen Typs entstanden. Sie wollte weder handwerkliche Traditionen kultivieren noch dem Ateliergedanken des isoliert vom Leben einsam schaffenden Künstlers frönen, vielmehr beides vereinen, das traditionell dem Material und diesem entsprechenden Techniken verpflichtete und eher beharrende Schaffen des gestaltenden Handwerkers verschmelzen mit dem subjektiv geprägten, suchenden, stets zu neuem Aufbruch bereiten, ständig neue Formwelten und Bildideen hervorbringendem Schaffen des bildenden Künstlers . . .
Deshalb ist der Werkstattgedanke das Zentrum der Idee von Walter Gropius und darin das schöpferische Experiment der Kern. Dieses sollte beitragen zur schöpferischen Erziehung kreativer Persönlichkeiten als Verantwortlichen für die Strukturen einer künftigen neuen gesellschaftlichen Gesamtkultur, orientiert an den arbeitenden Menschen und nicht an der Oberschicht.“

 

Doch trotz dieses fast kollektivistisch anmutenden Programms blieben die meisten der Protagonisten zugleich Individualisten – Künstler eben, die neben gemeinschaftliche sozialrevolutionäre und damit  zur damaligen Zeit gesellschaftlich suspekte Designprojekte immer auch die ganz persönliche künstlerische Weltbewältigung stellten – und damit das Bauhaus-Ideal der „Kathedrale der Zukunft“ in ihrer makellos perfekten und homogen-kristallinen Struktur, die alles miteinander verschmilzt, illusionär und unrealistisch bleiben ließen.

 

Und so blieb auch die ersehnte dauerhafte Harmonie gemeinschaftlichen Wirkens letztlich nicht mehr als eine unerfüllbare Hoffnung. Die Spielräume zwischen Eigen- und Gemeinsinn werden jedoch im Ausbildungsprozess an der Gropiusschule offenbar nicht zum Minenfeld, sondern zum Humus der Kreativität – ein anspruchsvoller pädagogischer Ansatz, der die Persönlichkeitsentwicklung der Schüler in den Mittelpunkt des Ausbildungsprozesses stellt und dessen Mühen sich offensichtlich lohnen. Dabei ist es über die  Zusammenarbeit von Schülern oder Lehrern in Projekten über Klassen, Altersstufen oder Fachgebiete hinaus auch die Teamarbeit zwischen Lehrern und Schülern, die allerdings noch heute nach 90 Jahren – innerhalb der trotz aller Bildungsreformen noch immer traditionell hierarchischen Strukturen der Bildungssysteme – durchaus nicht überall selbstverständlich erscheint, an der Gropiusschule aber erkennbar ganz im Bauhaussinn zum Alltag gehört und die Qualität der Ergebnisse entscheidend potenziert.

 

Dazu gehört ein pluralistischer Ansatz sowie das strukturierte, systematische und kombinatorische Denken, welches gerade in angewandten Bereichen der Gestaltung unabdingbar ist.

 

Das Bauhaus wird aber auch vor allem als eine Schule des Erfindens begriffen, die Lernen durch formale Nachahmung prinzipiell ablehnt. Das ist nur möglich, wenn es gelingt, im Vertrauen auf die Fähigkeiten jedes einzelnen Schülers dessen individuelle Gestaltungskraft ganz spezifisch zu motivieren und zu aktivieren und dabei jegliche Nivellierung zu vermeiden, die den schnellen Kollektiv-Effekt verspricht – sicherlich oft ein mutiger und mühevoller pädagogischer Drahtseilakt mit allen Risiken des Scheiterns, letztlich und auf Dauer aber der einzige erfolgversprechende Weg. Dabei geht es im Gropius’schen Sinne immer um Denken vor Unterweisen, um Suchen vor Untersuchen und um den Weg vom Ganzen ins Detail.

Die Basis der Ausbildung im Bereich Gestaltung ist der Erwerb solider gestalterischer Grundkenntnisse und -fähigkeiten.
Dabei zieht sich wie ein Leitfaden durch die gesamte gestalterische Ausbildung das Sehenlernen, Sensibilisieren, Erspüren, Erproben und Experimentieren  als Grundlagen für bewusstes Gestalten.
Dadurch wird der Blick für das Wesentliche gestalterischer Prozesse geschärft – von der ersten Ideenskizze über Studien, Entwürfe, Modelle, bis zum Endergebnis und dessen Präsentation. All diese Arbeitsschritte werden in der Ausstellung dokumentiert und visualisiert.

 

Werkstatt, Experiment und Individualität, zwar nicht zielgerichtet auf direkte Verwendbarkeit und nachweisbaren Nutzen, jedoch in engem, unauflösbarem Kontakt mit der Realität des Alltags – sozial wie historisch – und von dieser geprägt, ebenso mit Urbanität und Natur, das ist das Kernstück der Idee des Bauhauses.
Und darin liegt, so die Erkenntnis von Ludwig Mies van der Rohe, dem dritten und letzten Direktor des Bauhauses, dessen wahre Bedeutung und Wirkung weit über seine tatsächliche Existenz und den Raum seines Wirkens hinweg bis in die Gegenwart hinein und gewiss auch zukünftig weiterhin“
, fasst Rainer Behrens zusammen.

 

Damit wird die dritte Säule auch der Ausbildung an der Gropiusschule neben der komplexen Verknüpfung von sogenannter angewandter und freier Kunst, von Kunst und Technik, verbunden mit der seit dem römischen Architekten Vitruv tradierten Dreieinigkeit von firmitas (Festigkeit), utilitas (Nützlichkeit) und venustas (Schönheit) und der übergreifenden Teamarbeit beschrieben: der permanente Praxisbezug, komplex zusammengeführt nicht zuletzt auch in der Kooperation aller Bereiche bei der Vorbereitung dieser Ausstellung vom Corporate Design bis zum konkreten Konzept der Präsentation und der Realisierung.

 

Und auch die spielerische Erweiterung der Grundstrategien hinein in Theater, Tanz, Performance, Fest , die den lebendigen, rhythmisch bewegten menschlichen Körper in ein Gesamtkunstwerk einbringt, wurde bereits erfolgreich erprobt. Ist also, wo Walter-Gropius-Schule draufsteht, Bauhaus drin?

 

Zumindest im besten Sinne, im Kern dessen, was geblieben ist nach 90 Jahren voller Fehlinterpretationen und Missverständnisse.

 

Und hier braucht diese Einrichtung den Vergleich mit gleichartigen nicht zu scheuen, durchaus auch nicht mit der nachbarlichen Bauhausuniversität in Weimar!

 

Absolventen der Erfurter Gestaltungsfachoberschule bringen in ihre künftige weitere Ausbildung und Berufspraxis ein Lebenskonzept ein, das auf der Basis solider theoretischer Kenntnisse und Erkenntnisse und handwerklich-praktischer Fähigkeiten und Fertigkeiten in den genannten Bereichen vor allem getragen wird von fachübergreifender Experimentierfreude und sinnlich-mentaler wie intellektueller Offenheit gegenüber neuen Erfahrungen,  Gedanken und Visionen.

 

Lebt also das alte Bauhaus heut noch, Bauhaus heut noch, Bauhaus heut noch? Lebt denn das alte Bauhaus heut noch, Bauhaus heut noch?

 

Ja wahrhaftig – es lebt noch, es lebt noch, es lebt noch – ja, es lebt noch, es lebt noch – stirbt nicht!!! Danke, Walter-Gropius-Schule!

 

Erfurt, 19.11.2009 | Dr. Jutta Lindemann