Kein Happy-end für Rotkäppchen?

Zwischen Modediktat und Persönlichkeit – Farbe in der Kleidung
Vortrag von Dr. Jutta Lindemann anlässlich der Internationalen Farbfachtagung 2004 des Deutschen Farbzentrums e. V. „AuffälligUnauffällig – Farbe im Design“ an der Fakultät Gestaltung der Universität Hildesheim

„Grün, grün, grün sind sind alle meine Kleider,

grün, grün, grün ist alles, was ich hab.

Darum lieb ich alles, was so grün ist,

weil mein Schatz ein Jägermeister ist!“

 

Das könnte das Hochzeitslied für Rotkäppchen sein, wenn es mit rechten gutbürgerlichen Dingen zuginge, und in den Märchen nicht auch „nach dem Happy-end gewöhnlich abgeblend’t“ würde.

Denn nach dem Tod des Wolfes ist doch alles gut, und Komplementärkontraste heißen schließlich so, weil sich alles so schön ausgleicht zu einer harmonischen grauen Suppe, oder?

 

Aber des Rotkäppchens Käppchen ist eben kein Zufall, sondern von aufmüpfigem Rot – im Wald ein absoluter Knaller und auch kostümgeschichtlich, denn Rot, das teure Purpurprodukt, war in märchenhaften, d. h. mittelalterlichen Zeiten, nun gerade kein volkstümlicher Ton. Der gut getarnte Grünrock, Beamter und somit schon von Berufs wegen gegen alles, was vom Wege abweicht, erscheint dagegen als der perfekte Anpasser. Nur ein moralisch total gewendetes Rotkäppchen könnte sich also möglicherweise künftig unter seine Fittiche begeben.

 

Doch logischer erscheint mir das Finale des Science-fiction-Märchenfilms von Neil Jordan „Zeit der Wölfe“ (GB/USA 1984), der ein belehrungsresistentes und daher noch immer auf das Leben und die wilde Welt weitab vom geraden Wege neugieriges Rotkäppchen schließlich gemeinsam mit dem Wolf und ihm als Wölfin anverwandelt die Flucht aus der spießigen Enge des Märchenwaldes antreten lässt: kein klassisches Hollywood-Happy-end, aber vielleicht doch eher ein Glück für sie und das einzig sinnvolle Ende.

 

Zwar war der Lebensalltag auch in sagenhafter Vorzeit nicht so überschaubar, wie ihn Märchen mythisch-symbolisch und oft auch sehr moralisch überliefern, doch die magische Kraft der Farben für die tägliche nonverbale Kommunikation zu nutzen, scheint gang und gäbe gewesen zu sein, wie Beispiele der Kostümgeschichte belegen:

 

Der schmachtende Troubadour im 12. Jahrhundert tat sein minnigliches Begehren und die Nähe zum Ziel durch Farben kund, wie der Kulturhistoriker Alexander von Gleichen-Russwurm berichtet:

Wie für eine Tempelweihe sind vier Stufen durchzumachen für den Liebenden, sie werden durch das Tragen besonderer Farben äußerlich sichtbar. Der ‚feignaire‘ der heimlich schmachtenden Ritter, wird oft zum irrenden Ritter, um durch Taten den Mut zu gewinnen, dass er seine Liebe gestehe. Er trägt Grün. (Vielleicht hätte der Jäger ja doch eine Chance bei Rotkäppchen?) … Der ‚preiaire’ hat sich erklärt, demütig bittend der Dame genähert, er trägt Weiß als die Farbe hoffender Sehnsucht. Der ‚entendaire’ ist der offiziell Erhörte und zum Dienst Angenommene, der Lehnsmann der Liebe, er trägt Rot.

Aber es gibt noch eine zarte, heikle Schattierung, die Dame beglückt den Ritter – wie weit, das ist niemandes Sache … er ist ihr Herzensfreund, ihr ‚drutz’ geworden und trägt Gelb als Zeichen beglückter Neigung. (1)

O tempora, o mores! Gelb warnt heute im europäischen Raum z. B. vor Unfall- und Seuchengefahr …

 

Doch das Tragen der Farben seiner Dame motivierte damals auch so manchen Turnierkämpfer zu Höchstleistungen und war womöglich Vorbote für politische Bekenntnisse durch Farbdemonstrationen von Hut bis Socke, wie sie ins Extrem getrieben zu Zeiten der französischen Revolution bei mangelnder Flexibilität leicht den Kopf kosten konnten und wir sie heute nur noch aus der Sportwelt kennen – wenn auch hier zuweilen noch Auslöser mancher eher regelwidriger körperlicher Aktivitäten, womit bewiesen ist, dass nonverbale Kommunikation auf allen Ebenen und zu allen Zeiten bei mangelnder Sensibilität für die Wirkungen im Umfeld buchstäblich schnell ins Auge gehen.

 

Sollte uns das jedoch davon abhalten, dem oft lässigen Umgang mit dieserart Botschaften in der Gegenwart der Reizüberflutung durch ständigem Bedeutungswandel unterworfene Zeichenwelten neue Impulse zu geben? Mitnichten!

Aber hat die marktorientierte Modebranche dem nicht schon längst einen Riegel vorgeschoben? Herrscht sie doch nunmehr dadurch, dass anscheinend alles erlaubt ist und doch eigentlich nichts, was nicht en vogue ist – und selbst die das Protestpotenial sogenannter Antimode schon gewinnbringend lanciert ist, ohne dass ihre wider den Stachel zu löcken glaubenden Träger es ahnen.

(Von wem hatte Rotkäppchen eigentliche ihre Mütze, und wer hatte sie ihr eingeredet? Wollte ihre Mutter gerade irgendeinen alten Lappen loswerden, oder hatte die Großmutter rote Wolle übrig?) (Aber das Käppchen war ja lt. Gebrüder Grimm aus festlich-aristokratischem Sammet: Etwa ein Aschenputtelsyndrom?)

Waren zuvor in Europa nach Überwindung der oft ökonomisch begründeten Ständebindung von Farben in der Kleidung ganze Zeitalter von dominierenden Farbklängen geprägt, die im gegenläufigen Ausschlag des Farbpendels sich rhythmisch ablösten wie Spätmittelalter und Renaissance von leidenschaftlich-lebensvollen, starken Kontrasten, Gegenreformation von der Dominanz eines unsinnlich-stumpfem, körperverleugnenden Schwarz, Barock von schwerleuchtenden, saftig-satten Klängen und Rokoko von dekadent-diffizilen Pastellnuancen (bis zu den sachkundigen Modulationen der Flohfarbe „puce“), so scheint die seit wenigstens zwei Jahrhunderten mögliche relative Freizügigkeit in der Farbwahl für die Kleidung ein äußerlich sichtbarer Demokratiefaktor zu sein und damit ein unerschöpfliches Potential für die Entfaltung individueller Ausdruckswerte der Persönlichkeit – und doch ein vom einzelnen zu wenig bewusst genutztes!

 

Aber warum lassen wir uns eigentlich diesen Spaß entgehen – und Männer noch mehr als Frauen – jeden Tag mit Hilfe der eigenen Körperlichkeit und mittels ein paar Lappen und Klunkern ein unverwechselbares Kunstwerk zu schaffen und damit in die öffentliche Kommunikation einzutreten? Weil man uns diktatorisch Farben der Saison vorsetzt oder uns nach oberflächlichen äußerlichen Kriterien die Entscheidung abverlangt, ein Frühlings-, Sommer-, Herbst- oder Wintertyp zu sein und damit in eine rein formal definierte Schublade zu stecken?

Birkengrün und Saatengrün, blau blüht der Enzian und rot die Heide, schwarzbraun ist die Haselnuss – Schneeflöckchen-Weißröckchen …? Ja, was denn nun?

Alles Quatsch! Ich bin ich bin ich bin ich! Und ich kann alles sein, eine ganze Welt und noch viel mehr: Frühling, Sommer, Herbst und Winter, Tag und Nacht, himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt, Weihnachten und Ostern auf einen Tag, wenn es sein muss! Und ob blond, ob braun, ist dafür auch bestenfalls zweitrangig, obwohl ich als Kind der festen Überzeugung war, genährt offenbar aus diversen Anleitungen, Blonden stünde unwiederruflich Blau am besten, Schwarzen Rot oder Gelb und Rothaarigen Grün. Doch zum Teufel mit dem dafür vermutlich verantwortlich zu machenden Komplementärkontrast! Und was hat eigentlich meine vererbte Haarfarbe mit meinen Gefühlen und Gedanken, mit meinem Temperament und meinen Lebensauffassungen zu tun?

(Zum Glück kann ich wenigstens sie ja auch ändern!)

 

Ein Kernproblem, das die Jahreszeiten- und anderen Typisierungstheorien in der Mode völlig über den Haufen wirft, ist die häufige Diskrepanz zwischen Erscheinung und Charakter in der Persönlichkeit eines Menschen. Andernfalls hätte nämlich Rotkäppchen gar kein Käppchen gebraucht, denn sie hätte geradezu zwingend rotes Haar gehabt, und zwar echtes, nicht gefärbtes, frei nach dem alten Spruch „Und darum nimb wahr, was für Haar – ist solches rot, hats groß Gefahr!“ (E.M.: L.L.)

 

Auf die Vermutung einer Übereinstimmung von Wesen und Erscheinung allerdings scheint schon Johannes Itten gründlich hereingefallen zu sein. Seine Theorie der persönlichen Farben, fast zufällig entwickelt nach einer Farbübung mit Studenten und für den individuellen Umgang mit Farbe in der Bekleidung prinzipiell eine gute Basis, postuliert zumindest eine solche natürliche Übereinstimmung in den vorgeführten Modellfällen: Ein zartes blaßblondes Mädchen erklärt streng geometrisch gefügte, fein modulierte kühle Pastelltöne zu ihren Lieblingsfarben, eine praller lebenslustiger Rotschopf tupft, nach ihren Vorlieben befragt, spontan kräftig rot und grün leuchtende Farbwirbel, ein finster blickender, in sich gekehrter, zu Depressionen neigender schwarzhaariger Jüngling lässt im Innern eines grauschwarz sich verdunkelnden Farbfeldes einen gelben Hoffnungsschimmer sparsam aufleuchten. (2)

 

Aber so einfach ist es leider nicht mit dem Verhältnis von außen und innen, Gesicht und Ansicht, Hülle und Fülle. Und so schlingert die individuelle Farbgestaltung der eigenen Kleidung, trotz aller Unabhängigkeit von Modetrends und Zeitgeistdiktaten, unrettbar zwischen Scylla und Charybdis von Wesen und Erscheinung.

Aber vielleicht stellen wir uns damit auch wieder selbst ein Bein.

Wer sagt denn, dass Rotkäppchen nicht auch noch wahlweise grüne oder gelbe Käppchen aus dem Schrank holte, wenn ihr danach war?

Hauptsache, es ist uns überhaupt nach irgendetwas, und wir können fühlen, dass die Farben, in die wir uns dann hüllen, etwas in uns bewirken und auch in denen, die uns begegnen.

 

Und ob hochangebundene, historisch determinierte Symbolik oder individuelle, psychologisch begründete und oft trotzdem oder gerade deshalb uns selbst unerklärliche Vorliebe oder beides in beliebiger Mischung – die Entscheidungen, die jeden Morgen oder sogar mehrmals täglich und nicht erst vor dem Spiegel, weil zuerst innerlich getroffen werden, schaffen mittels Farben, Formen, Materialien, deren Ausdruckswerte einander beeinflussen und modifizieren, steigern oder zurücknehmen, ein Bild von uns in unserer Fantasie, das von einer oft geradezu abenteuerlichen Mixtur aus funktionalen und ästhetischen, psychologischen und physiologischen Aspekten getragen ist: aus mehr oder weniger realistischen Vorstellungen vom eigenen Inneren und Äußeren, aus mehr oder weniger realistischen Erwartungen, die man an sich selbst, an andere und an den Verlauf dieses Tages stellt, aus den vermuteten und den wirklichen Bedingungen, die uns der Tag auferlegt und der mehr oder weniger freiwilligen Haltung dazu – auf dem weiten Feld zwischen Anpassung und Ablehnung – und schließlich aus der sehr unterschiedlich ausgeprägten Fähigkeit, all diesem gestalterisch Rechnung zu tragen, in verständlichen Signalen dem Umfeld seine Positionen zu all diesen Aspekten mitzuteilen und dann auch noch das Echo zu verkraften.

 

Dabei sollte übrigens m. E. die psychische Affinität unbedingt vor dem Bemühen um die Korrektur vermeintlicher physischer Defekte dominieren; dass Schwarz schlank macht, ist eine rein optische Suggestion von sehr marginalem Effekt. Wirksamer erscheint es mir, die eigene spezifische Körperlichkeit selbstbewußt zu akzeptieren.

 

Manchmal möchte man da allerdings am liebsten die Käppchen allesamt im Schrank lassen und gleich im Bett bleiben. Aber es macht eben auch Spaß, wenn man es als lustvolles Spiel begreift, um mit wenigen Mitteln, aber wirkungsvoll und nachhaltig miteinander in Kontakt kommen, Gleichgesinnte wortlos identifizieren oder Andersdenkende schweigend ignorieren zu können und sich selbst dabei, im Falle einer gelungenen Chamäleonperformance, wohl und sicher zu fühlen, weil erkannt und anerkannt – grün zu grün – als Förster im Forst, oder je nach Lust und Laune und mit leicht wohliger Gänsehaut, als unübersehbares Enfant terrible, das rote Käppchen froh leuchtend aus dem Unterholz-Einerlei herausgereckt und so doch auch – und vielleicht sogar mit Freuden – Freiwild für so manchen Wolf.

 

Was Farben in all ihren Modulationen und die sich gegenseitig beeinflussenden Farbkombinationen auf dem Leib über unsere sich zudem stetig wandelnde physische und psychische Wesenheit, Be- und Empfindlichkeit, vor allem aber die jeweilige situative psychische Konstellation, enthüllen könnten, lässt sich dabei nicht immer nur mit Worten beschreiben, zumal hier die synästhetischen Verschmelzungen fast irrational zugreifen können.

Doch einiges Assoziative aus dem allgemeinen und individuellen Erlebnis- und Erfahrungsschatz kann zumeist Unterbewusstes, eher emotional als rational Benanntes bewusster machen.

 

Aber ist es uns eigentlich beim morgendlichen Ankleideritual, kurz nachdem der kleine Kopfcomputer nach einigem Hin und her die Programmierung endlich abgeschlossen hat, wirklich immer so klar, welche Flaggen wir damit vor uns her tragen – oszillierend zwischen Protest und Harmoniesucht und mehr oder weniger eingedenk der schon erwähnten Tatsache, dass die einst revolutionäre Ablehnung, manifestiert in zunächst für kühn gehaltenen Outfits von Landsknechtsschlitzmode über Werthertracht, Sansculottenbeinkleid bis zu James Deans und Marlon Brandos Jeans- und –Lederjackenkluft, inzwischen wie immer in nachrevolutionärer Saturiertheit zur marktfähigen modischen Attitüde verkommen ist?

Der Mythos des Jeansblau ist dafür noch immer aktuelles Beispiel, irgendwo zwischen Novalis’ Blauer Blume und Proletkult, auf dem Pariser Catwalk ebenso seit Jahrzehnten zu Hause wie in Technodiscos, Schrebergärten und Rentnerklubs. Das Label macht’s – und damit den kleinen, großen Unterschied: im Preis.

Farbe war und ist dabei meist die Einstiegsdroge ins ganze Psychoprogramm – Farben alarmieren assoziativ nämlich auch neben Temperatur- und anderen Körperempfindungen Sinneswahrnehmungen von Gehör und Geschmack bis Geruch. Wählen wir aber wirklich täglich bewusst zwischen Feuersturm, lauem Lüftchen oder Polarlicht (unabhängig vom realen Wetterbericht), zwischen schmetternder Trompete, schrillem Saxophon und sanfter Blockflöte (unsere Körpersprache zwischen bühnenwirksamem Auftritt und verdecktem Anschleichen eingeschlossen!), zwischen Zitronensorbet, Heidelbeerkompott und Nougatpraline (Farbbezeichnungen sind in dieser Branche kein Zufall!), zwischen Fichtennadelextrakt, Meeresbrise oder Rosenbouquet (Parfüms als zusätzliche Undercoveragenten sind dabei nicht hoch genug zu unterschätzen!)?

 

Schon Sprache entlarvt Zusammenhänge: Hohe oder tiefe, schrille oder dumpfe Farbtöne und -klänge verweisen auf die beispielsweise von Wassily Kandinsky charakterisierten Verknüpfungen zur Musik: Für ihn war Gelb scharfer Trompeten- oder Fanfarenklang, Hellblau die Flöte, Dunkelblau das Violoncello, Tiefblau ein tiefer Orgel- und Grün ein ruhiger mittlerer Geigenton, Hellrot Fanfare oder Tuba, glühendes Zinnober tiefes, warmes Cello und helles, kaltes Rot eine hohe, klare Geige, Orange eine mittlere Kirchenglocke oder die Altstimme einer Geige, Violett ein Fagott oder eine Schalmei; Schwarz, Weiss, Grau und Braun dagegen hatte für ihn gar keinen Klang. (3)

 

Wahrscheinlich können wir von Glück sagen, dass heute die wenigsten unserer täglichen Kommunikationspartner sich all dieser Signale in ihrer vollen Tragweite bewusst werden. Früher konnte das Tragen falscher Farben zu Straßenschlachten führen – heute hat sich diese schöne Tradition nur noch in Fußballfankreisen erhalten. Und subtilere Aussagen bleiben zumeist auch beim Signalempfänger im Bereich des Un- und Unterbewussten, sodass leider die Ursachen manche r Reaktionen oft für alle Beteiligten im Dunkeln bleiben. Unser allmorgendlicher Kopfcomputer aber ist sich seiner Verantwortung schon bewusst, spult im Turbotempo ein ganzes Sigmund-Freud-Programm in uns ab, meist in zeitsparender Bildform, und filtert ein paar Varianten heraus. Dabei spielen neben unserer momentanen inneren und äußeren Beschaffenheit die wechselnden Kontexte eine Rolle, in denen wir uns im Tagesverlauf auffällig/unauffällig bewegen wollen: Vorstellungsgespräch, Dienstberatung beim Chef oder Konferenz mit Konkurrenten? Herbstwanderung mit Bierfass, Opernball oder Vernissage zeitgenössischer Kunst? Sachlich kühles Grau oder Blau mit Nadelstreifen? Rustikales Lodengrün und Erdbraun zu Jeansblau? Erhaben abwehrendes Schwarz – mal seidenglänzend und mal leinenmatt? Flankierende Maßnahmen sind selbstverständlich Materialwahl und Formentscheidungen, ob fürs Detail des Dessins oder das Große und Ganze des Schnitt-Designs, sie stützen oder dämpfen den Vortrag der Farbkombination und verfeinern die Assoziationsangebote um entscheidende Nuancen, auch um die der in Zeichen und Symbolen vorgetragenen Reverenz an den Zeitgeist– aber das wäre wieder ein neues Kapitel.

 

Was also hätte das rote Käppchen uns beispielsweise sagen wollen? Etwa: „Aus dem Weg – heute bin ich nicht zu bremsen!“ oder: „Ihr könnt mich mal – ich mache sowieso nur, was ich will!“ oder: „Ätsch – ich bin anders als ihr alle!“ oder auch: „Mir ist so kalt heute – bitte mehr Wärme und Liebe!“ oder sogar ganz autosuggestiv: „Heute versetze ich mir aber mal einen gehörigen Schubs, um in Gang zu kommen!“ (Manches davon war wohl nur von einem Wolf zu verstehen, nicht von einem Forstbeamten, und der Schritt vom Wege folglich einzig logische Konsequenz!) Und ein schwarzes Käppchen? Ein existenzialistisches „Noli mi tangere!“ oder einfach nur die Betonung edler Blässe und heller Haare, Trauer und Verleugnung von Freude und Sinnlichkeit oder Anpassung an ein intellektuelles Theater-, Vortrags- oder Vernissagenpublikum? Und ein blaues? „Nur die Sehnsucht weiß, was sich leide“ oder profan ein Cool-down als Hoffnung und Angebot an einem heißen Tag oder ganz praktisch die optische Steigerung von Blond? Ein rostbraun-oliv getupftes? Fühle ich mich einem Herbstwald verbunden oder meinen roten Haaren? Oder gar ein weißes: Tarnung im Schneegebirge oder tatsächlich Zeichen der Unschuld? Aber wenn Bräute deshalb in Weiß heiraten, wie soll man dann den schwarzen Anzug des Bräutigams erklären? Oder geht es dabei nur um die Polarität zwischen Frau und Mann wie die zwischen Himmel und Hölle, Leben und Tod, Alpha und Omega? Weißkittel oder Blaumann? Grünschnabel gegen Blaubart? Weißer Riese kontra Schwarze Witwe? Blaue Blume versus Rote Laterne?

Der Vorhang fällt und alle Fragen offen …

 

Es sei denn, man lässt sich ein auf spielerische Übungsprogramme, die für den Zusammenklang von Farben, Formen und Materialien sensibilisieren, ohne sich sogleich in den Zwang der Tagesaufgabe Kleidung begeben zu müssen.

Ein vor Jahren in der Kunsterzieherausbildung Erfurt erarbeitetes und über mehrere Semester erprobtes Programm dieser Art unter dem Titel „Fläche-Körper-Raum – Grundkurs zur Flächengestaltung und ihren Anwendungsbereichen“ setzte in 22 Unterrichtsstunden im Wechsel von Theorieseminaren und praktischen Übungen die Entstehung und Gestaltung von vorwiegend textilen Flächengebilden in Beziehung zu den ausgewählten Gestaltungsaufgaben der Bekleidungsgestaltung (zum Beispiel dem Entwickeln einer Grundgarderobe mit individuellem Farbkonzept auf der Basis einer Analyse der inneren und äußeren Persönlichkeit in ihrem Bedingungsgefüge, mit dem Entwurf eines „Psycho-Kostüms“ als Krönung) und der Szenographie (Kostüm, Bühnenbild). Der Erkenntnisprozess kulminierte dabei u. a. in der Feststellung, dass die Komponenten Farbe, Form und Material mit ihren spezifischen, jedoch voneinander nicht zu trennenden und einander auch modifizierenden Ausdruckswerten in ihrem Zusammenwirken in verschiedenen Fläche-Körper-Raum-Beziehungen wie etwa der Bekleidung (oder in komprimierter Form auch im Schmuckdesign) eine expressive Gesamtwirkung erzielen, die auf assoziativen und synästhetischen Lebens- und Sinneserfahrungen basiert und diese bei der Wahrnehmung des Resultats auch wieder hervorruft, getragen vor allem vom Willen nach individuellem Persönlichkeitsausdruck mit kommunikativer Absicht. Dies wird erreicht u. a. dadurch, dass gewissermaßen gleichnishaft über diesen Zusammenklang von Farben, Formen und Materialien vertraute Empfindungen, Eigenschaften, Haltungen und Kräfte geweckt werden wie (deutlicher erkennbar im Gegensatzpaar):

 

  • – Harmonie/Geborgenheit/Zurückhaltung – Spannung/Konflikt/Aggression
  • – Aktivität/Dynamik/Unruhe/Instabilität – Passivität/Statuarik/Ruhe/Stabilität
  • – Kraft/Mut – Schwäche/Angst
  • – Freude/Heiterkeit – Trauer/Schwermut
  • – Größe/Macht/Würde – Kleinheit(Kleinlichkeit)/Ohnmacht/Würdelosigkeit
  • – Festigkeit/Unverletzlichkeit – Fragilität/Verletzlichkeit
  • – Schwere/Undurchdringlichkeit/Massivität/Verschlossenheit – Leichtigkeit/Transparenz/Offenheit
  • – Schlichtheit/Klarheit – Kompliziertheit/Differenziertheit
  • – Korrektheit/Ordnung/Systematik – Wildheit/Verwirrung/Chaos
  • – Rauheit/Grobheit/Schroffheit – Sanftheit/Feinheit/Zartheit
  • – Strenge/Härte/Rationalität/Technoides – Milde/Weichheit/Emotionalität/Organides.

 

Diese Wirkungen im Gestaltungsprozess zu nutzen heißt aber auch, ihre Grenzen zu erkennen und zu überschreiten. Denn erst wenn man die Schubladen kennt, kann man ihnen entkommen und mit Lust und Erfolg souverän zwischen ihnen hin und her springen – wie im richtigen Leben. Farben als Eye-catcher sind dabei in ihrer direkten schnellen Ansprache allen voran, tragen uns durch den Tag, je näher auf der Haut, umso eindrucksvoller in ihrer Wirkung nach außen ebenso wie nach innen. Je stärker wir das bewusst erfahren, auch fernab jeder Wissenschaft und aller marktbestimmten Modediktate, dafür aber über die tiefere Sensualisierung eines zwar alltäglichen, aber durchaus nicht nebensächlichen Vorgangs wie den des Bekleidens, umso größer wird der Spaß an diesem komplexen kreativen und kommunikativen Prozess, der jedem ungeahnte Erfahrungs- und Erlebniswelten eröffnen kann.

 

Und glücklicherweise wird in unserer Beziehung zur Farbe immer auch eine Spur des Mysteriösen bleiben und damit auch unseren in dieser materialisierten Welt verständlichen Durst nach Transzendenz und Spiritualität stillen, so wie es Alan Alexander Milne in seinem Klassiker für erwachsene Kinder und kindgebliebene Erwachsene „Pu der Bär“ demonstriert, in dem übrigens auch eine inzwischen nicht nur unter Pooh-isten weltbekannte Farb-Tarn-Strategie für scheinbare Wolken in Bienennähe entwickelt wurde:

Aber Ferkel hörte nicht zu; es war schier außer sich, als es daran dachte, dass es Christopher Robins blaue Hosenträger wieder sehen würde. Es hatte sie bisher nur einmal gesehen, als es noch sehr viel jünger gewesen war, und weil es sich bei ihrem Anblick ein bisschen zu sehr aufgeregt hatte, musste es eine halbe Stunde eher ins Bett als üblich; und seitdem hatte es sich immer wieder gefragt, ob sie wirklich so blau und so anregend und so hosentragend waren, wie es sie in Erinnerung hatte. (4)

 

2004 | Dr. Jutta Lindemann

 

 

(1) Zitiert in: L. Kybalová, O. Herbenová, M. Lamarová: Das große Bilderlexikon der Mode. Dresden 1980, S. 113

(2) Johannes Itten: Die Kunst der Farbe, Maier Ravensburg 1975, 1994, 1998

(3) Wassily Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst, 1911, Bern 1973

(4) A. A. Milne: Pu baut ein Haus, Cecilie Dressler Verlag, Hamburg 1998, S. 66