Manfred Gerlach – Thüringer Impressionen

Laudatio zur Vernissage in der Hauptverwaltung der Landesversicherungsanstalt Erfurt am 16.06.2003

Ganz anders als beispielsweise Schriftsteller sind nur wenige Maler und Grafiker damit erfolgreich, den Orten ihrer Herkunft ein künstlerisches Denkmal zu setzen. Während Autoren wie Thomas Mann, Günther Grass oder etwa ein Erwin Strittmatter zeitlebens von den Prägungen und Impulsen zehren, die ihre Heimatstadt und die Landschaften ihrer Kindheit auf ihr Schaffen ausgestrahlt haben, sind weder Dürer oder Rembrandt noch Picasso oder etwa ein Wolfgang Mattheuer vor allem für Landschaftsstudien ihres heimatlichen Umfeldes bekannt geworden, obwohl sie sich wie viele andere durchaus, vor allem zu Beginn ihrer künstlerischen Karriere, von deren Motiven bildnerisch beeindruckt zeigten.

 

Für mich gilt als rühmenswerte deutsche Ausnahme nach Caspar David Friedrich und seit den verehrungsvollen Huldigungen der Impressionisten und der Worpsweder Gruppe – und zwar im Sinne einer anspruchsvollen „Heimatmalerei“ im besten Sinn des Wortes – der langjährig in Mecklenburg ansässige Otto Niemeyer-Holstein, dessen spröde, sensible Landschaften, Felder und Gärten unvergesslich bleiben.

 

Und so scheint es fast – aber darüber ließe sich sicherlich auch trefflich streiten – eine Eigenart der offenbar besonders heimatverbundenen Thüringer Künstler zu sein, zuweilen ihr gesamtes Werk den Orten und Landschaften dieses Landstriches zu widmen, der eine Weimarer Malerschule hervorbrachte oder einen Lionel Feininger – durch die Liebe zu einer Frau in den Bann Thüringens geraten – ein Leben lang fesselte, wenngleich nur wenige Arbeiten davon zu seinen Hauptwerken zählen.

 

Und da gibt es die Lokalmatadoren Otto Paetz und Otto Knöpfer, das legendäre Duo. Ungezählte Thüringer Kunst- und Naturbegeisterte sind durch ihre Schule gegangen, ob in einer regulären Ausbildung wie Manfred Gerlach, um dessen Arbeiten es heute gehen soll, oder in den berühmten Kursen und Zirkeln, deren Absolventen inzwischen Legionen sind und die wiederum neue Generationen mit diesem Doppelvirus erfolgreich infizieren konnten. Und vielen von ihnen geht es vielleicht gerade darum auch so, wie Brigitte Peukert in einem TLZ-Artikel am 7. Dezember 1999 schrieb:

 

Seine Heimatstadt Erfurt hat Manfred Gerlach nie losgelassen, nicht nur wegen der vielen Verwandten und Freunde, die hier leben, sondern vor allem wegen seines Lehrers, dem Thüringer Altmeister bildender Kunst Otto Knöpfer. Als Gerlach erfuhr, dass dessen Nachlass jetzt im Molsdorfer Schloss aufbewahrt wird, stand es für den 1927 Geborenen fest: Ich male nach einem alten Foto das ich besitze, ein Porträt von Knöpfer und schenke es in tiefer Verehrung für den Künstler dem Museum.

Denn der an der damaligen Landesschule für Angewandte Kunst lehrende Otto Knöpfer war es, der die Begabung des jungen Mannes von 1947 bis 1950 förderte.

 

Als er dann allerdings als Sohn eines Unternehmers, nämlich des Besitzers eines Betriebes für Dekorationsmalerei, als „politisch nicht tragbar“ eingeschätzt und daher nicht zur Abschlussprüfung zugelassen wurde, studierte er in Berlin-Charlottenburg weiter, um nach einem erneuten kurzen Aufenthalt in Erfurt nach den Ereignissen des 17. Juni 1953 ( also fast auf den Tag genau vor 50 Jahren) seiner Heimat endgültig den Rücken zu kehren – und das sicher nicht leichten Herzens. Die Bilder, entstanden aus Sehnsucht und Liebe zu dieser schönen alten Stadt, die jeden in ihren Bann schlägt und immer wieder in ihre Mauern zurückzieht, beweisen es.

 

Sie zeigen aber auch, dass er sein Handwerk von der Pike auf gelernt und zugleich ein Gespür für die eigenwillige Technik der Aquarellmalerei entwickelt hat – in ihrer vom experimentellen freien Arbeiten und dem kreativen Umgang mit dem Zufall spezifisch geprägten künstlerischen Sprache vielleicht ein Äquivalent zur stärker rational und funktionell bestimmten Orientierung als freiberuflicher Farbexperte für die Industrie.

 

Die Erfahrung des Farbberaters zeigt sich in den bewusst gewählten und doch gezielt für einen künstlerischen Ausdruck genutzten Farbkontrasten – bevorzugt zwischen in sich fein differenzierten kühlen Graublaugrün- und warmen Rotorangegold-Tönen, die fast alle Arbeiten beherrschen und den farbigen Bildrhythmus durch diesen reduzierten Grundfarbklang spannungsvoll gestalten.

 

Doch die von künstlerischen Intentionen getragene Handschrift wird noch deutlicher erkennbar im beherrschten und doch souveränen Umgang mit den Gegensätzen zwischen weich modulierter Fläche und glasklarer und doch fließende Konturen bildender Linie, wie nur das Aquarell es ermöglicht und gerade die Bildmotive von Städten und Landschaften, aber auch das Pflanzenstilleben im Knöpferschen Geist besondere Möglichkeiten bieten.

 

Sanft mit dem Pinselkörper über das Papier gestrichene Flächen verdichten die Farbintensität behutsam verlaufend bis zur mit der Pinselspitze sicher gezogenen Kontur hin und bilden Felskanten oder Fensterrahmen, Dachfirste oder Ufersäume, Pflanzenstängel oder Stromleitungen, die als feiner grafischer Akzent die großen weichen Flächen gliedern und zugleich über den Kontrast in ihrer Sanftheit betonen.

 

So werden über die Rückführung auf künstlerische Werte wie Liniengefüge und Farbstruktur tatsächlich die verwandtschaftlichen Züge zwischen der Toskana und Thüringen offenkundig, in Andalusien vermeint man die Dornburger Schlösser zu entdecken, und die Saalfelder Feengrotten – in fast abstraktem freien Fluss der Formen und Farben – gleichen in der Dramatik den aufgetürmten Felsformationen des Grand Canyon – brennendes Rot in reichen Facetten vor strahlendem Blau in allen Schattierungen.

 

Weit gespannt über das Format in ihrer Gesamtheit, doch immer wieder rhythmisch gebrochen und unterbrochen durch zarte grafische Akzente – Silhouetten von Gräsern oder Bäumen, ziehen sich die flachen Ufer und Horizonte der Wasserlandschaften vom Rhein oder aus der Mecklenburger Seenwelt unter der Abendsonne oder auch einer kleinen Herbstlandschaft im Nebel dahin. Die wuchtigen Wolkengebirge mancher hohen Himmel erinnern an Emil Nolde, sind aber von geringerer Dramatik, der Verzicht auf Details zugunsten des Farbklangs lässt eine harmonische Atmosphäre von großer Stille mit nahezu meditativer Ausstrahlung entstehen, die zuweilen noch verstärkt wird durch das leichte Schimmern eines Malgrundes aus Glasfaservlies, der auch dem Farbfluss neue Wege öffnet.

 

Auf andere, intimere Weise haben diese Wirkung auch die weniger kontrastreichen, schwebend leichten, fast im Hintergrund verfließenden Pflanzenstudien, die wohl zugleich als eine Hommáge an den großen Meister dieses Genres Otto Knöpfer zu verstehen sind.

 

Besonders wirkungsvoll können aus dem lebendigen Wechsel von Kante und Fläche Stadtlandschaften entwickelt werden: Kein noch so gutes Foto könnte wohl den nahezu märchenhaften Zauber wiedergeben, der uns wie Vögel in die klare Luft über die Dächer der Erfurter Altstadt aufsteigen lässt, um auf den Dom am entfernten Horizont zuzuschweben. Denn so werden unsere Blicke über das Blatt „Über den Dächern“ von Manfred Gerlach geführt, das wie auch die ungewöhnlichen Sichten auf den Anger, die Pförtchenbrücke oder den Stadtteil, der erkennbar nicht zu Unrecht „Venedig“ genannt wird, die ganze Liebe des Malers zu dieser Stadt offenbart.

 

Denn wie die Schönheit nimmer schön, die nicht der Seele Atem kennt,

Wie durch des Lichtes Kraft allein der Zauber der Gefildes lebt,

So ist das Leben nicht belebt als durch der Liebe Sakrament;

Das fühlet, wer die Liebe fühlt, wer unter ihrem Schilde lebt,

schreibt Theodor Storm und meint damit sicherlich auch den Künstler, von dessen Liebe zu den Gefilden seiner Herkunft sein Schaffen getragen erscheint.

 

Und so ist es nach langen Jahren der zwar körperlichen, doch nie der seelischen Abwesenheit eine Heimkehr auf den Wegen der Kunst.

 

So wie Theodor Storm vor 160 Jahren „An die Freunde“ schreibt:

Wieder einmal ausgeflogen,

wieder einmal heimgekehrt;

Fand ich doch die alten Freunde

Und die Herzen unversehrt.

 

Wird uns wieder wohl vereinen

Frischer Ost und frischer West?

Auch die losesten der Vögel

Tragen allgemach zu Nest.

 

Immer schwerer wird das Päckchen,

Kaum noch trägt es sich allein;

Und in immer engre Fesseln

Schlinget uns die Heimat ein.

 

Und an seines Hauses Schwelle

Wird ein jeder festgebannt;

Aber Liebesfäden spinnen

Heimlich sich von Land zu Land.

 

Erfurt, 16.06.2003 | Dr. Jutta Lindemann