Sollte ich unverhofft – und ich hoffe wirklich, es geschieht nie – in eine Quizsendung geraten und dann auch noch nach der Maxime meines Lebens gefragt werden, so könnte es geschehen, dass ich den weisen chinesischen Meister Lao-Tse zitiere:
… denn alles Schwere der Welt ward aus Leichtem und alles Große entsteht aus Geringem. Nie müht sich darum der Weise um Großes, und so vermag er Großes zu schaffen.
Vielleicht ist es auch gerade dieses Prinzip, dass mich an der Textilkunst so fasziniert. Denn versteht man zwar auch längst nicht mehr nur alles darunter, was man mit einigermaßen geschickten Händen aus Fasern und Fäden fabrizieren kann, um sich oder seine Behausung damit einzuwickeln, sondern umfasst inzwischen dieser Begriff experimentelles Gestalten mit den unterschiedlichsten Werkstoffen und Technologien bis hin zum Schöpfen und Montieren von Papieren, dem Verflechten von Metallen oder auch einem kühnen Mix aus verschiedenen Materialien und Verfahren – so ist es doch immer noch ein Arbeiten wie von innen heraus, das aus kleinsten Elementen wie komplizierteste Gefüge, oft sogar gewaltige Gebilde heranwachsen lässt, die in sinnlich erlebbaren Schritten und Stufen die umfänglichen Zeiträume ihres Entstehungsprozesses sichtbar Gestalt werden lassen.
Vielleicht gelingt es auch deshalb gerade in der Textilkunst immer wieder überzeugend, jahrtausendealte Ideen und Methoden nicht nur in die Gegenwart herüberzuretten, sondern ihnen den Geist des Innovativen einzuhauchen. So wird Walken und Weben, Stricken und Sticken, Klöppeln und Knüpfen und all das andere mühsame Gefummel, das früher die tüchtige Hausfrau nächtelang beschäftigte und erst nach der Erfindung pfiffiger Maschinen zum Hobby werden konnte, auch nach Generationen noch nicht langweilig – und ist längst auch nicht mehr nur Frauensache, seit die „Hohe Kunst“ die kreative Omnipotenz dieser Materialien und ihrer Verarbeitungsmöglichkeiten entdeckt hat.
Auch den spezifischen Reiz dieser besonderen Ausstellung macht es aus, dass fantasievoll mit den Impulsen aus Überliefertem umgegangen wird, so dass diese reizvollen Gefüge aus Fäden und Fantasie sich in Beziehung setzen zu anderen kreativen Textiltechniken – und damit immerwieder auch Impulse geben zu neuen, noch mutigeren Schritten, wie einem Sog folgend, der ein Aufhören eigentlich unmöglich macht – Urteil: lebenslänglich!
Und dabei hatte doch alles so harmlos genau in dieser Traditionskiste angefangen vor fast 30 Jahren: mit Frauen, allerdings berufstätigen, die sowieso schon immer etwas mehr wollten als die drei K – in DDR-Variation des kleinbürgerlichen Frauenbildes Kirche-Küche-Kinder vielleicht Konsum-Küche-Kinder (Betonung auf dem „o“ – Konsúm mit Betonung auf dem „u“ kam erst später!).
Nein, sie wollten etwas Eigenes, Individuelles, wollten eine Herausforderung, wollten kreativ sein – wenn auch ohne den Traum des eigentlichen Künstlerdaseins.
Und das hatten sie nun davon: Kaum hatten sie sich unter Anleitung der damals frischgebackenen Absolventin der Fachschule für angewandte Kunst Schneeberg Gerlinde Rusch, die sie bis heute mit Inspiration und Herausforderung begleitet, die Grundlagen für freies kreatives Gestalten erarbeitet, ging es auch schon „in die vollen“: Über erste Gestaltungsübungen, selbständige Entwürfe zu einem selbst gewählten Thema, wie etwa „Florales“, „Strukturen“ oder „Masken“, Farb- und Arbeitsmuster bis zum fertigen Stück gewannen die Frauen allmählich eigene künstlerische Souveränität, so dass einige sogar eine mehrjährige Ausbildung zum Kursleiter für textiles Gestalten erfolgreich abschließen konnten – eine gute Basis für weitere Schritte ins experimentelle Arbeiten hinein, zum Beispiel zu Kombinationen mit anderen Materialien und Techniken, die u. a. auf Wochenendworkshops erlernt und erprobt wurden – wie Papierschöpfen, Seidenmalerei, Collage und Assemblage, Applikation und Patchwork, Walken und Weben, Färben, Sticken, Knüpfen und – derzeit aktuell- das Klöppeln, aber auch das plastische und räumliche Arbeiten mit Papieren, Drähten und verschiedenen Naturmaterialien.
Die Erfolge kamen schon in den ersten Jahren durch zahlreiche Ausstellungen – oft auch mit Vorführungen – in Leipzig, Berlin, Dresden, Suhl, Magdeburg, Erfurt und Bildungsreisen innerhalb, später auch außerhalb Deutschlands, so nach Rom, Wien, Paris, London. Und natürlich – denn das Gute liegt so nah – gibt es außerdem als Ideenbörse des einmal monatlich stattfindenden Kurses die regelmäßigen Besuche des „Tages der offenen Tür“ an der Fachhochschule Schneeberg.
Die vielfältigen Inspirationen fordern heraus zu Neuem; die Messlatte wird ständig höher gelegt.
Den höchsten Anspruch an Fertigkeit und Fantasie zugleich stellen beispielsweise Themenvorgaben bei Wettbewerben und Workshops: Inspirationen aus Natur, Architektur, bildender Kunst und Design, manchmal aber auch einfach unter eigenen künstlerischen Aspekten verarbeitete Assoziationen zu Gesehenem und Erlebtem oder auch der Reiz des Materials selbst, seine Variabilität und Flexibilität, der Facettenreichtum seines Eigenausdrucks forderten die Entdeckung völlig neuer, manchmal regelrecht verblüffender Gestaltungslösungen mit originellen Formideen und raffinierten technischen Tricks heraus.
Je nach Individualität und davon geprägtem künstlerischen Konzept der Gestaltenden entstehen geometrisch gebaute, rasterartig geordnete Gefüge oder dem Fadenverlauf folgend organid fließende Gebilde – herb und streng oder zart und fragil, flächig bildhaft oder räumlich-skulptural, groß dimensioniert oder in Miniaturformaten, aus festem, grobem Leinen, feiner, weicher Baumwolle oder schimmernder, glatter Seide und sogar experimentierfreudig aus biegsam kraftvollem Draht, handgeschöpften Papieren oder anderen neuen Werkstoffen. Farbe wird entweder in klarem, auch inhaltlich begründetem Kontrast eingesetzt oder mit der Absicht, über eine malerisch sanfte oder kraftvoll heitere Tonwertskala einen bestimmten Ausdruck zu erreichen – etwa für eine romantisch gestimmte Landschaftsstudie einerseits oder die rustikale Atmosphäre einer naiv-fröhlichen Bildgeschichte anderseits.
Die Arbeiten der sechs an dieser Ausstellung beteiligten Frauen zeigen nicht nur die oft erstaunlichen künstlerischen Entwicklungen der einzelnen Gruppenmitglieder, die es nicht nur rechtfertigen, einer großen Öffentlichkeit vorgestellt zu werden, sondern sicherlich auch impulsgebend sein könnten für viele, die bisher noch nicht den Mut hatten, ihre inneren Kräfte in eigene Kreativität umzusetzen.
Zugleich halfen und helfen dieses gemeinsame Arbeiten und Erleben, auch die Begegnungen und Erfolge den Frauen aber auch, manche Schwierigkeiten im Umgang mit den Veränderungen der Zeit nach 1990 zu überwinden und berechtigt neues Selbstbewußtsein aufzubauen.
Und der Faden reißt zum Glück nicht ab: Die nächsten Aufgaben halten die kleinen grauen Zellen bereits in Schwung und so wird es sicherlich in Zukunft auch weiterhin einen kreativen Ritt über das weite Feld der textilen Künste geben, nicht zuletzt dank der frischen und zugleich einfühlsamen Art der künstlerischen Chefin – sozusagen der „Art Direktorin“, wie man heute sagt, Gerlinde Rusch – aber natürlich ist es vor allem zu danken dem Durchstehvermögen, mit dem diese Frauen alle gemeinsam immer wieder einen hohen Anspruch an das eigene Leben stellen, sich aus eigener Kraft Erfolge schaffen und vor allem den Spaß, der zu einem erfüllten Leben gehört.
Den Faden sollte mancher aufgreifen, er führt aus so einigen Labyrinthen des Lebens.
Wie selten passen hier und für diese anregende Ausstellung die Gedanken des weisen alten Chinesen Lao Tse aus seinem Jahrtausende alten Werk Tao Te King:
Kann sich öffnen und schließen das Himmelstor ohne das Weibliche?
Und:
Kenne das Männliche, aber bewahre das Weibliche.
Kenne das Licht, aber bewahre den Schatten.
Kenne das Hohe, aber bewahre das Niedrige.
So stellt der Weise sein Selbst zurück
Und ist den anderen voraus
Wahrt nicht sein Selbst
Und es bleibt ihm bewahrt
Denn ohne Eigensucht
Vollendet er das Eigene.
Und der Erfurter Mystiker des Mittelalters Meister Eckhart fügt neue Gedanken hinzu, die eine Spur in die Ewigkeit legen, der jegliches künstlerische Tun zu folgen vermag:
Recht in gleicher Weise heißen alle Werke der Menschen, die ihren Ursprung von innen nehmen.
Und:
Denn alles Geschaffene geht auf in Wandlung.
Das ist wohl auch die Philosophie der zugleich fragilen und dauerhaften Textilkunst zwischen Vergehen und Bestehen – und ihr lohnt es sich zu folgen.
Erfurt, am Frauentag 2004 | Dr. Jutta Lindemann