„Die Zivilisation fällt nach und nach von mir ab. Ich fange an, einfach zu denken, nur wenig Hass gegen meinen Nächsten zu empfinden, mehr – ihn zu lieben. Ich genieße alle Freuden eines freien, animalischen und menschlichen Lebens. Ich entwinde mich dem Gekünstelten, ich dringe in die Natur ein. Mit der Gewißheit, dass das Morgen nicht anders sein wird als das Heute, ebenso frei, ebenso schön, senkt sich Friede in meine Seele.“ (Paul Gauguin, Noa Noa)
Gauguin suchte und fand – zumindest für einige Jahre – sein Paradies auf der Insel Tahiti.
Nachdem eine Woge üppiger Südsee-Kunst-Träume mit ihrer Prachtentfaltung auch unsere Museumslandschaft überrollt hat, kommen nunmehr Erfurter Künstler vergleichsweise bescheiden, aber umso hintergründiger daher mit ihren Visionen und Illusionen von den irdischen und himmlischen Paradiesen – bescheiden vor allem natürlich, was die Finanzierung betrifft, denn Phantasie kennt keine Grenzen und findet tausend Paradiese in der Kunst.
Den Künstler-Gruppen „Chiffre 4“ und „5-Raum-Wohnung“ ist der Krönbacken seit Jahren vertrauter Präsentationsort ihrer unterschiedlichen thematischen Projekte, doch erstmals treffen beide Gruppen mit ihren Expositionen zum diesjährigen Kulturthema „Sehnsucht nach dem Paradies – Wege zur jungen Kunst“ in diesem Haus aufeinander.
Junge Kunst? Nun ja, die Künstler selbst sind den Jugendweiheklamotten doch inzwischen – manche aber man gerade so – entwachsen. Das hindert jedoch wenig, ab und zu etwas zu denken und zu tun, was die Allee der etablierten Erwartungen mit gelegentlichen Seitensprüngen immer mal wieder verlässt, ohne sie gänzlich aus den Augen zu verlieren.
Aber decken wir besser den Schleier der Nächstenliebe über das Thema Jugend respektive Alter: Produktiver scheint allemal der Blick auf das Präsentierte – nicht ohne zuvor jedoch einen kleinen Exkurs in den abgründigen Bedeutungsdschungel des Paradiesbegriffes zu tun.
Denn nur noch mal zur Erinnerung: Wie war doch eigentlich die Sache gleich?
Das schlaue Microsoft-Encartalexikon, das noch schlauere Internet und das oberschlaue Institut für Paradiesforschung (gibt‘s wirklich!) haben natürlich wie immer gleich Erklärungen für alles zur Hand – ob uns das genügen kann, muss sich zeigen!
Aus Zeit- und Platzgründen ein bisschen davon im Telegrammstil:
Griechisch paradeisos für Garten oder Hain mit Obst oder Tieren – dann biblisch für den Garten Eden (aus dem sumerischen Adina oder Adana für Garten oder Grüne Steppe, oder Dilmun „am unteren bitteren Meer zur Morgenseite gelegen“, also wahrscheinlich die Bahrein-Inseln – alles in allem einem nur auf den ersten Blick fruchtbar scheinenden Ort) – verwandt dem hinduistischen und buddhistischen Nirwana – arabisch auch Farduus oder Dschanna adn – oft mit der Vorstellung einer Teilung in mehrere Stufen und dem Siebenten Himmel als deren höchste – erster Wohnort der Menschheit bzw. ihrer Stammeltern Adama, des aus Staub Geschaffenen, und seiner treue Rippe Eva – und somit insgesamt auch als Symbol für den Stand der Unschuld, der mit dem Sündenfall endete – in poetischer Sprache für Himmel als Ort der Glückseligkeit – spätere Bedeutung: unkultiviertes Hinterland fernab der Kulturzentren(!) – für strenggläubige Juden als „Gan Eden“ Sammlungsort der Gerechten nach dem Tod ohne irdische Entsprechung – für andere durchaus mit irdischem Lageplan versehen!
Und wo wäre die mythisch-mystische Location im Diesseits zu finden?
Schlag nach bei Moses:
Gen 2,10-14: „10 Ein Strom kommt aus Eden, den Garten zu bewässern und von dort aus teilt er sich zu vier Hauptströmen. 11 Des ersten Name ist Pischon, der das ganze Land Chawila umringt, wo das Gold ist. 12 Das Gold dieses Landes ist gut. Dort findet man das Bedolach-Erz und den Schoham-Stein. 13 Der Name des zweiten Stroms ist Gichon, der das ganze Land Kusch umringt. 14 Der Name des dritten Stroms ist Chidekel, der auf der Morgenseite von Aschur fließt und der vierte Strom ist Perat.“
(Das klingt natürlich etwas zu kryptisch für eine handliche Schatzkarte, aber die Wissenschaft hat zum Glück des Pudels Kern entschlüsselt: Perat und Chidekel sind Euphrat und Tigris, Kusch soll Äthiopien sein oder eher noch Babylon, und damit scheint zumindest die geographische Lage des Paradieses klar: rund 22 km südwestlich des mythenumwobenen Berges Ararat in der Nähe des Van-Sees in der heutigen Ost-Türkei – fruchtbar und reich an Wasser und anderen Schätzen! Oder wo oder was?
(Als modernes Paradies wird gern auch die noch immer wachsende experimentelle alternative Wohnsiedlung Kattenbroek in Ammersford, sechzig Kilometer südlich von Amsterdam, angesehen, wo inzwischen Reiche und Arme, Junge und Alte, Inländer und Ausländer im sozialen Wohnungsbau, in Heimunterbringung, Versorgungsbau, im Mietwohnungsbau, im Genossenschaftswohnungsbau und mit eigenen Kulturzentren miteinander nicht nur leben, sondern entscheidend an deren Gestaltung mitwirken.)
Aber in Wirklichkeit ist es ansonsten damit wie mit den sagenhaften Glücklichen Inseln hinter dem Winde: Überall und nirgends, wenn man nicht das rechte Wort weiß oder am richtigen Tag in die Galoschen des Glücks hinein geboren wurde!
Und Adam und Eva darin waren sozusagen das von Gott angestellte Gärtner- und Hausmeisterehepaar:
Gen 2,15: „Das ewige Wesen, Gott, nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, um diesen zu bewirtschaften und zu bewahren.“ (Nach babylonischer Mythologie war der hauptsächliche Grund für die Erschaffung der Menschen, Nahrung für die Götter anzubauen.)
Leider hatten die beiden offenbar das Kleingedruckte in ihrem Vertrag nicht gelesen und die Haftungsbedingungen großzügig ignoriert – und waren dann auch noch auf den – zugegebenermaßen verführerischen – Werbeslogan eines schlangenzüngigen Vertreters der Höllen-GmbH hereingefallen:
In Goethes Faust schreibt Mephisto im Professorentalar dem wissbegierigem Studienanfänger ins Stammbuch, was die Schlange versprach und was als Überschrift offenbar über dem ganzen Drama des Erkenntnisdrangs und der Grenzüberschreitungen stehen soll: Eritis sicut Deus, scientes bonum et malum – „Ihr werdet sein wie Gott und das Gute und Böse erkennen“.
Und so kam, was kommen musste: Kündigung zuzüglich fetter Vertragstrafe! Die Zinsen zahlen wir noch heute – und manch andere leben offenbar auch noch heute davon …
Denn der eine Schadensfall wäre ja vielleicht noch als Mundraub durch gegangen, wenn nicht daraus ein bösartiges Koppelgeschäft entstanden wäre: Der Apfel der Erkenntnis war vergiftet, und zwar nicht gerade mit der Milch der frommen Denkungsart, sondern etwas, woran wir noch heute leiden: dem Virus der Wählerei: er kann nun zwischen gut und böse wählen (eigentlich überschaubarer als das, was uns heute bevorsteht!) und haut demzufolge im folgenden eben meistens daneben. Zu Strafe vom Big Brother aus dem Reich der Unschuld verbannt, ist nun auch ein anderer wichtiger Sponsor perdu – der Baum des ewigen Lebens. Ob er wollte oder nicht: Adam musste bei Strafe des eigenen Untergangs bzw. des seiner potentiellen Nachfahren nun ran an die Eva – unabänderlich aber ab sofort auch die Endlichkeit seiner individuellen Biographie vor Augen!
Und da haben wir nun heute den Salat! Und guter Rat ist wieder mal teuer!
Und wer kann uns aus dem ganzen Wirrwarr heutzutage wieder heraushelfen?
Natürlich nur die die übliche Verdächtigen: die Künstler!
Als da wären, zum Exempel hier unter auf der eher bodenständig-irdischen Ebene:
Vier Männer und eine Frau – Carlo Bansini, Wolfgang Harth, Verena Kyselka, Gunther Lerz und Thomas Nicolai, in abenteuerlicher Kombination und Mixtur Maler, Grafiker, Fotografen, Video- Und Installationskünstler – die mit allen ihnen zu Gebote stehenden Waffen der Kunst ein „Scharmützel im Schlaraffenland“ veranstalten: Scherz, Satire, Blasphemie und tiefere Bedeutung sind Strategie und Taktik zugleich – frei nach Blüchers Motto „Getrennt marschieren und vereint schlagen!“ konfrontieren sie ironisch, sarkastisch oder auch oft einfach nur augenzwinkernd paradiesische Fiktion und Realität und ziehen gegen Heilsversprechungen jeder Art zu Felde.„Auch in paradiesischen Solidargemeinschaften mit liberalen und toleranten Ansprüchen entwickeln sich Wertesysteme totalitärer oder fanatischer Positionen außerhalb der Metaebene, bis hin zum Untergang von Hochkulturen. … Aus ambivalenten Konflikten entsteht ein Kampf im Paradies um radikale Polaritäten. Dabei handelt es sich oftmals um Schaukämpfe und Scharmützel unserer Wohlstandsgesellschaft“, schreibt Wolfgang Harth. „Die Ausstellung der Gruppe Fünf-Raum-Wohnung im Kulturhof zum Güldenen Krönbacken zeigt kontroverse Standpunkte im Paradies unter Verwendung von Reflexionen, Wellenüberlagerungen, Fehlinformationen und Videointerferenzen, Ölgemälde, digitale Fotos, die sich mit den polarisierten Positionen unserer Wertesysteme auseinandersetzen.“
Schau’n wir mal:
Nach Paradiesen für Pferde und Heldenindianer – symptomatisch für unser aller Sehnsucht nach ruhmvoller Bewahrung im Gedächtnisheim für alternde Helden Walhalla – sucht Carlo Bansini mit dem Fotoapparat und wird fündig (wo sonst?) im kommerzialisierten Spielzeugland: Für ewig in Gummi und Plastik gegossen, verehrungsvoll von schwitzenden Kinderhänden hin und her gewendet, zu kleinen Altargruppen auf Kommoden und Nachtschränkchen geordnet – kann es bessere Paradiese für eine Kultfigur geben als ein Kinderzimmer? Banal oder bombastisch? Was ist das – ein Held unserer Zeit, und wo sind sein Himmel und seine Hölle?
Wolfgang Harth hat dafür eine klare Ansage, brutal, doch bar jeden Zynismus, nur auf den Punkt gebracht: Jede Art Traum von abgehobenen reinen Welten versinkt im Sumpf alltäglicher Realität. Geld regiert die Welt, Waffen helfen beim Machterhalt, und auf hilfreiche höhere Wesen braucht sich niemand herauszureden: Menschen spielen dieses Spiel – gnadenlos, skrupellos, illusionslos, hoffnungslos. Nur die Wirklichkeit der abendlichen Nachrichtensendungen vermag das noch zu übertreffen, doch wir sehen wir eigentlich noch richtig hin zwischen Vorabendserie und Krimi? Hier müssen wir, und wir sollten es tun, denn Farbe und Pinsel beschönigen nichts durch ästhetische Finessen.
Wahrhaft satanische Dimensionen hatte übrigens wohl auch die tatsächliche Existenz einer 1946 gehängten deutschen KZ-Aufseherin mit dem Namen Ewa Paradies …
Verena Kyselka reiste in die Epizentren von bekannten Urlaubs-, Geld- und Steuerparadiesen und entdeckte deren unterschiedliche Fragilität: Während sie vermummt vor den Eingängen offenbar unerschütterlich sicherer Schweizer Banken vergeblich auf den Zugriff der Staatsmacht hoffte, durchdrangen im fernen Taiwan wunderbarerweise metaphysische Ebenen den sachlichen Alltag der Megastadt Taipei und führten Irdisches und Überirdisches zueinander zu gegenseitiger Bekräftigung: zwischen Scooterinvasionen und Massendemonstrationen von Mundschutzträgern ganz selbstverständliche buddhistische Zeremonien wie das Verwehenlassen von rituellem Geldscheinen, das zumindest zeitweilig mental aus monetären Bindungen befreien kann, die frontale Begegnung mit dem klaren, offenen Gesicht einer Nonne und die tanzenden Füße chinesischer Aborigines. Auch solche Erfahrungen lassen nachdenken über die eigene Identität: die Einkehr in das verborgenen Paradies der eigenen Seelenzustände – in täglich wechselnden Selbstbildnissen, wochenlang, gegenübergestellt den fixierten und natürlich rein äußerlich determinierten Resultaten neuester Identitätskennungstechnik mit Fingerabdruck, Augen- und Handscan.
Gunther Lerz erprobt die Paradisierung der Welt durch Farbräusche, könnte man auf den ersten Blick vermuten. Doch die Kompositionsstruktur, die zunächst harmonisierte Ordnungen mit strengen Streifenrastern bricht und die Protagonisten wie in Gitterwelten einbindet, bremst die befreiende Wucht der Farben. Und so kommen Zweifel, ob der Schamane seine heilsamen Kräfte in dieser Welt wird ausstrahlen lassen können, ob dass ersehnte Wunder aus höheren Gefilden zu dem Betenden an der Klagemauer kommen wird, ob, was als schön galt bisher, noch Bestand haben wird in diesem unserem Schlaraffenland der verkehrten Werte.
Ja und absolut mysteriös – weil unsichtbar bis heute Mittag – blieben mir die paradiesischen Welten des Thomas Nicolai, deshalb hülle ich sie gezwungenermaßen in den Mantel des Schweigens.
Die Scharmützel im Schlaraffenland, in die sich Künstler aktiv einmischen und in denen dann Pinsel wahlweise zu Degen oder Schlagstöcken, Fotoapparate zu Maschinengewehr oder Bordkanone werden und die damit doch eher zum Leben erwecken als töten, nämlich Kreativität und Verantwortungsgefühl, werden hoffentlich über diesen Raum hinaus Nachdenken provozieren – und mehr als das!
Doch begeben wir uns nun doch vom Irdischen ins Überirdische – und das meine ich ganz praktisch:
Da sind nämlich auch noch – dort oben, in der mehr himmlische Sphäre – vier Frauen – die Malerinnen Regina Aschenbach und Ina Hermann, die Textilkünstlerin Bettina Neumann und die Grafikerin Sigrid Wiegandt – die es auf den ersten Blick sanfter angehen, aber doch auf den zweiten mit subtiler Doppelbödigkeit ihre „Vision Paradies“ präsentieren:
Mit je nach Temperament sparsamen oder starken sinnlichen Werten von Farben und Zeichen, Papieren und Stoffen, Gefundenem und Gesehenem besetzen sie arkadische Seelenlandschaften als ihren „Hortus deliciarum“, sammeln und bewahren im wörtlichen wie übertragenen Sinne Früchte vom Baum der Erkenntnis zwischen Werden und Vergehen, bekämpfen befürchtete Gefährdungen der Idylle, die sie zumeist in der Natur suchen, winters wie sommers, abstrakt oder figurativ, in Text und Bild, im großen wie im kleinen – mit der Kraft der Hoffnung und der Liebe.
Ihr Arkadien braucht jedoch statt schützender und sperrender (Garten)-Mauern Weite, Luft zum Atmen und Denken, und aus dem kreativen Umgang mit diesem Anspruch schöpfen sie täglich neue Lebensenergie.
„Ich glaube es hat nie ein Paradies gegeben. Ein Paradies außerhalb der Natur … ein derartiges Paradies kann ich mir nicht vorstellen.“ (Marlen Haushofer in „Die Wand“)
Das ist zugleich auch fast ein Leitspruch für die Arbeiten von Regina Aschenbach, die ihren Garten Eden in den zeitlich sich wandelnden Farben und Strukturen der sie täglich umgebenden Natur finde, deren Protagonisten Bäume, Wiesen und Bäche sich in den wahrhaft olympischen Disziplinen miteinander messen wie Frühlingsmorgenleuchten, Sommerwolkenschieben, Herbstblattglühen und Wintereisschimmern – und unversehens wird in der gemeinsamen Farbenorgie Baum zu Bach zu Wiese zu Wand zu Fels zu Fluss und alles zusammen steht für die beglückende Erfahrung einer allen tölpelhaften Eingriffen des Menschen trotzenden ungebrochenen Kraft der Schöpfung.
In den Arbeiten von Ina Hermann geht es immer um Bewegung – in alle Himmelsrichtungen. Sie bevölkert in einer Tafel-Trilogie saftig-expressiv einen Hortus includus unter der Zirkuskuppel des Weltgeschehens, der zugleich den Kleinkrieg in unseren Gemütern spiegelt: das endlose Kreisen in der Arena der gescheiterten Hoffnungen – ohne Anfang und ohne Ende in mühsam gewahrter Balance und Contenance, mit vergeblichen Klimmzügen an den zu steilen Sprossen der endlosen Himmelsleiter, mit sinnlos scheinendem Anrennen gegen verschlossene Türen. Und doch gibt es auch Hoffnung: Die Träume des Seeräubers und die Taten des Ikarus der zweifarbigen Acrylzeichnungen steigen auf in einen fern vermuteten Himmel, der vielleicht, wenn auch individuell verschieden, der paradiesische siebente sein könnte – so wie leichte flatternde Striche im Bildraum frei aufsteigen, gelöst aus sepiabraunflächiger Erdenschwere, Phantasie versus Gravitationsgesetz.
Das Spiel mit der schillernden Ambivalenz von Schein und Sein reizt Bettina Neumann gern mit den ihr eigenen subtilen Mitteln textiler Techniken aus: So wie die scheinbar aus zarten Bleistiftschraffuren erwachsene Gabe der Schlange vor dem nahenden Auge ihre wahren Waffen ausfährt, verharren auch andere zunächst eindeutig freundliche Botschaften in stachliger Doppelzüngigkeit, erweist sich das kostbar ziselierte Glück aus dem Jackpot als simple Suppeneinlage und lässt das ganze Programm uns schließlich mit der Befürchtung aufgestachelt im Regen stehen, mit dem sehnsüchtig erträumten Paradies könnte es möglicherweise auch nicht sehr weit her sein.
Ganz ernst scheint als Vierte im Bunde Sigrid Wiegandt daher zu kommen: Für sie befindet offenbar das Paradies genau in jener sagenhaften Mitte, wo unbestätigten Gerüchten zufolge auch die Wahrheit liegen soll und in der sich beispielsweise immer alle Politiker wähnen – nämlich genau im Schnittpunkt von Himmel und Hölle, Gut und Böse, Schwarz und Weiß, die im beliebten Kinderfaltspiel voll philosophischer Weisheit ständig miteinander changieren. In der Verbindung von Sprach- und Bildzeichen – übereinander gedruckt und gezeichnet, aus feinsten Schraffuren aufgebaut und in fortlaufenden Metamorphosen von Buchseite zu Buchseite – entstehen genau die Überlagerungen beider Ebenen, aus denen die Zwischentöne entstehen, die neugierig machen und das Auge auf Wanderschaft schicken in Zwischenwelten, die beides verschmelzen, so wie im Werden und Vergehen aller Geschöpfe über Knospe und Frucht millionenfach in jeder Erdensekunde Leben und Tod unauflösbar verschmelzen – Paradiesfrüchte nicht ausgenommen, wie es aufmerksame Besucher Tag für Tag der gesamten Ausstellungszeit verfolgen könnten. Nur das Foto nährt (vergeblich allerdings) die Illusion der Unvergänglichkeit, die sezierende Zeichnung legt die Wahrheit bloß.
Und die nicht zuletzt auch die Ambivalenz dieser Texturen – faltig, knorrig, schrundig – zwischen Pflanze, Tier oder Menschenwesen führt all unser Suchen letztlich immer auf uns selbst zurück, denn wenn wir das ach so ferne Paradies nicht in uns finden können, dann finden wir es nirgendwo.
Paradiesisch für uns, die Künstler und mich, wäre es allerdings auch, wenn Sie alle beim Verlassen dieses mehr oder weniger irdischen Galerie-Paradieses mit Paul Gauguin sagen oder zumindest denken wollten – wenn auch nicht gerade nach zweijährigem Aufenthalt:
„Leb wohl, gastliches Land, köstliches Land, Heimat der Freiheit und der Schönheit! Ich gehe fort, zwei Jahre älter, um zwanzig Jahre verjüngt, mehr B a r b a r auch als bei meiner Ankunft und doch wissender. Jawohl, die Wilden haben den alten Zivilisierten viele Dinge gelehrt – sie, die Unwissenden – viele Dinge über die Kunst, zu leben, und über die Kunst, glücklich zu sein.“ (Paul Gauguin, Noa Noa)
Erfurt, 03.06.2005 | Dr. Jutta Lindemann