Marion Walther

Rüdiger Mußbach

Thomas Fischer

Traumstücke  – 3 x 50 – Kunststücke aus 5 Jahrzehnten, Galerie o. T. Mühlhausen 28.10.2005

Mit gelben Birnen hänget

Und voll mit wilden Rosen

Das Land in den See,

Ihr holden Schwäne,

Und trunken von Küssen

Tunkt ihr das Haupt

Ins heilignüchterne Wasser.

Weh mir, wo nehm ich, wenn

Es Winter ist, die Blumen, und wo

Den Sonnenschein,

Und Schatten der Erde?

Die Mauern stehn

Sprachlos und kalt, im Winde

Klirren die Fahnen.

 

Friedrich Hölderlin sah so die „Hälfte des Lebens“.

 

Alle Wetter – ernste Sache das! Oder?

Es soll Leute geben, für die ist dieser angeblich so markante Einschnitt das Ende der Welt, die magische Grenze zwischen Hoffnung und Resignation, Aufstieg und Verfall, Jugend und Alter, Leben und Tod: gewissermaßen das Bergfest, der Anfang vom Ende: Rien-e-va-plus – der endgültige Abschied von der besseren die Hälfte des Lebens – der 50. Geburtstag!

 

Der unwiderrufliche, unumkehrbare Schritt in die düstere Welt der UHUS! Die Einschläge kommen näher! Die Bombe tickt! Das Fallbeil wackelt! Willkommen auf der anderen Seite des Mondes!

 

Ja!!! Willkommen! Denn jetzt geht es erst richtig los! Je oller, je doller – das ist beileibe keine leere Verheißung, das ist ein Zukunftsplan, der sich mit allen Wassern gewaschen hat! Oder wagt jemand hier, mir eine gegenteilige Meinung entgegenzuschleudern? Ich sehe mich umgeben von Scherbenhaufen ehemaliger Glashäuser, mit Steinen übersät!

 

Denn die drei, die die große Weihe gerade hinter sich gebracht oder noch kurz vor sich haben, haben ein unfehlbares Lebenselixier samt seiner innewohnenden Lebensweisheit mit besonders großen Löffeln gefressen – sein Name ist KUNST!

 

Mithilfe dieser unglaublichen Wundermedizin scheinen sich nämlich die Lebensvorgänge geradezu umzukehren! Das ist zwar unserer fleischlichen Hülle nicht anzusehen – leider, leider!

 

Aber jede Linie, die kunstbesessene Uhus aus der Hand laufen lassen, jede Spur, die ihr kunstinfizierter Geist auf Papier, in/auf/mit Ton/Textil/Tinte hinterläßt, verringert reziprok ihre geistige Faltentiefe.

 

Was nicht heißen soll, dass Kunst-Uhus intellektuell und emotionell zwangsläufig über kurz oder lang im Zeitalter der blanken Babypopos landen und schließlich nahtlos durch den Muttermund hindurch ins vorgeburtliche Nirvana entschwinden!

 

Neinnein – keine Panik, spätestens mit 90 stoppt die rückläufige Zeitmaschine erfahrungsgemäß auf dem Level des Kleinkindalters (und eher höchstens bei einer allerdings gefährlichen Überdosierung des Kunst-Elixiers!) – aber bis dahin und bevor die unbestechliche Biophysik peu á peu retardierende Momente einschaltet und schließlich harsch die Bremse anzieht, kann noch eine Menge halbstarken Unfugs angerichtet werden.

 

Das ist nicht nur ein Versprechen einer schon mehrjährig im Uhustadium Befindlichen – das ist ein unabweisbarer Auftrag!

 

Und den erfüllt man leichter Seite an Seite oder besser Flügel an Flügel mit Uhus, deren Flügelschlag im gleichen Rhythmus uns auf die gleiche Route bringt – den Blick zwar immer mal wieder scharf auf Mäuse gerichtet – natürlich … aber gegen die absolute Gier darauf durch das hart erworbene Wissen immunisiert, dass es noch andere Werte gibt als den schnöden Mammon.

 

Das hat man mit 20 im Stadium rettungsloser Romantik zwar schon geahnt, aber nicht so richtig geglaubt. Jetzt weiss man es.

 

Die gleiche Wellenlänge frei fliegender Uhu-Verbände zeigt sich an so mancherlei verräterischen Symptomen: Bei den heute in Frage kommenden drei Exemplaren dieser Spezies ist es die ihnen gemeinsame besondere Begabung zum Träumen, die sie in den letzten Jahren bereits mehr oder weniger häufig und überzeugend unter Beweis gestellt haben.

 

Und als roter Faden, der sie alle drei sicher durch diese mysteriös-mystische Welt des Un- und Unterbewussten auf der Nachtseite des Lebens geleitet, die seit jeher Inspirationsquelle von Künstlern ist, und ihre im realen Leben doch ziemlich unterschiedlichen Wurzeln und Wesenheiten, Macken und Machenschaften miteinander verbindet, zieht sich die bevorzugte Arbeit mit der Linie durch ihr Oeuvre.

 

Nichts als die freie Linie – egal, ob mit Stift, Feder, Pinsel auf Papier gezogen oder mit vielerlei anderem Werkzeug in vielerlei andere Materialien gegraben, ob einen plastischen Korpus umgleitend oder einen zweidimensionalen Bildraum im Sturm des energisch breiten Einzelstrichs oder im zierlichen Trippelschritt eines zarten Zeichengewimmels erobernd – ist besser als Psychogramm geeignet, denn die spontan von Hirn und Herz gleichermaßen gesteuerte Handbewegung transformiert am direktesten eine innere Bewegung in eine äußere – vergleichbar mit der Gestik, die vor allem bei großer Erregung unsere Rede begleitet, oder auch mit dem Tanz, den große Freude oder der magische Rhythmus von Musik manchmal völlig unerwartet aus uns hervorbrechen lässt.

 

Gestreckt, gestrafft, gebrochen, gleitend, fließend, fliehend – Linien zeigen und haben Charakter – den ihres Schöpfers, im Ausdruck genauso kontinuierlich oder wechselvoll wie seine Metamorphosen und Seelensprünge, die sie seismographisch verraten.

 

Linien sind die ursprünglichste Handschrift des Inneren im wahrsten Sinn des Wortes, sind Fingerabdruck der Seele.

 

Linien ziehen und überwinden zugleich die Grenzen zwischen Form und Raum, zwischen der kalten Wirklichkeit einer noch leeren Fläche und der frei herausfabulierten wilden Welt der Fantasie, wie sie nur dem Träumen entspringt – im Hellen wie im Dunklen, bei Tag und bei Nacht.

 

Linien lassen aus der Bildfläche illusorisch den Bildraum entstehen, den wir bis tief in die Unendlichkeit mit unseren Traumgeburten füllen.

 

Linien begrenzen aber auch als Konturen den Spielraum der entstandenen Formmodulationen – Bildzeichen für reale oder mystisch-mythische Mensch- oder Tierwesen, für pur und assoziativ Strukturelles oder bedeutungsvoll Gegenständliches – die zu sprengen sie zugleich gemeinsam mit uns immer wieder wagen, um modellhaft den Aufstand des Übersichhinauswachsens zu proben.

 

Linien graben in die heile Welt der unberührten Bildfläche wie auch in die Haut der klaren, glatten Form tiefe Schrunden als unvergängliche Zeitspuren im Rückblick auf Durchlebtes, das sie durch Beschreiben zu bewältigen helfen.

 

Linien sind das Medium, aus dem heraus sich der Bild- und Formgedanke entwickelt.

 

Linien als ursprünglichstes Gestaltungsmittel durchziehen vom ersten Moment an, in dem man entdeckt, dass die Marmelade oder Schokolade am Finger auf bevorzugt weißen Tischdecken eine aufsehenerrregende Spur hinterläßt, das Leben eines jeden Menschen.

 

Und da laut Ankündigung Werke aus den jeweils gesamten 50 Jahren der Jubilare präsent sein sollen, hoffe ich auf die Entdeckung unverfälschter Art Brut in Gestalt nicht nur frühkindlicher Schoko-Fingermalerei und expressiver Kopffüßlerschöpfungen, sondern auch klassischer Comicreihen aus der Schulheftphase oder wenigstens einiger gut angeleiteter Kosmonautengruppen auf mission impossible aus dem Stadium exzessiver Berufsfindungtrips.

 

Sollten wir aber doch mit den letzten drei Jahrzehnten des Gesamtoeuvres vorliebnehmen müssen, so überlasse ich trotzdem Ihnen die Paraderolle des lonesome rider durch die Schaffensgeschichte einer geballten Ladung Kunstwestthüringer und begebe mich lieber auf die Suche nach den akuten Querschnittsqualitäten der Delinquenten in der Gegenwart.

 

Es begegnen einander unter der Flagge des Goldenen Uhu von der einen Seite kommend der malerische Zeichner Thomas Fischer, der minutiös beobachtet und sensibel registriert, Linien zu Schraffurschleiern verdichtet, die Farbe sparsam, doch sehr dezidiert und fast dramaturgisch platziert zur Akzentuierung herausgehobener Konturen von Haltung, Richtung, Bewegung einsetzt, den Blick auf das Bizarre, Groteske, Skurrile einer Statur oder Situation fokussiert – dabei den Übervater aller zeitgenössischen deutschen Zeichner Horst Janssen inspirativ und konspirativ im Nacken, von der anderen Seite kommend der dem Textil entwachsene und doch dem Fadenspiel immer noch auf subtile Weise verpflichtete grafische Maler Rüdiger Mußbach, der netzartige Zeichengespinste von Gewachsenem und Gebautem aus sanft modulierten Farbnebeln emporsteigen lässt, wie man archäologische Schätze Schicht für Schicht aus Boden und Gestein löst, die Zeitebenen in transluziden, matt modulierten Farbschichten manifestiert und dabei nicht immer, aber immer öfter Paul Klee zuzwinkert – und das Mädel mittendrin, die wilde Wächterin auf der Keramikkugel Marion Walther, die sich im Augenboot ihrer Lebensneugier todesmutig wie Europa auf dem Stier zwischen Scylla und Charybdis von Fläche und Körper bewegt. Und ganz folgerichtig nach dem jahrelangen Spiel mit den energetischen Kräften der Linearität in verschiedenen Medien und Dimensionen zwischen Papier und Keramik, Stein, Holz und Leder, Druckfarbe, Engobe und Glasur tritt die Auseinandersetzung mit fließend geschriebener Schrift und ihren besonderen grafischen Aussagewerten hinzu.

 

Sie gräbt nach den Wurzeln des Werdens und Bewahrens, den Urformen einer kämpferischen, kraftvollen Mütterlichkeit, spricht zärtlich und zornig zugleich in der ihr über Jahre eigen gewordenen Formsprache von und mit den Dingen des Lebens in allen Modulationen und Metamorphosen und mit allen daraus hervorgegangenen und davon verbliebenen Spuren und Narben: Kugel und Knospe, Bauch und Boot – und darin, darauf, darüber straff und stolz aufgereckt Wächterinnen, die ihre Haut zu Markte tragen als glatte, nur zuweilen schmerzvoll aufspringende Glasur oder rissig getrocknete Engobe, warm erdbraunmatt oder kühl blaugrünglänzend.

 

50 Jahre und kein bisschen weise! Denn sonst wären sie schon längst Autoverkäufer, Versicherungsvertreter oder PR-Beraterin geworden und würden täglich in einer Marmorwanne voller Euros baden, anstatt noch immer wie vor 50 Jahren aus purem Spaßvergnügen für ’nen Appel und ein Ei sich und ihre Umgebung mit Farben zu beschmieren oder im Schlamm herumzumoddern und für die Resultate auch noch Lob einzufordern!

 

Diese beispielgebende Dusseligkeit gilt es heute zu bejubeln – und was wäre dafür besser geeignet als ein poetischer Erguss!

 

Ein solcher hat mich ungestüm überschwemmt, und ich öffne nun auch – wegen möglicher Folgeschäden unter zahlreichen Zeugen – für die Begünstigten alle hemmenden Schleusen: (Hoffnunglos der UHU-Depri Verfallenen lese ich aber auf Wunsch als Zugabe auch gern nochmal den literarisch auf jeden Fall eher preiswürdigen Hölderlin vor und lasse die Fahnen im Eiswind klirren …)

 

Die Ballade von den drei Uhus

Drei Uhus, Flügel dicht an Flügel,

durchstreifen ihres Lebens Hügel,

hoch auf den Gipfeln, tief in Schluchten,

ob sie dort finden, was sie suchten?

Im Rückblick auf des Lebens Pfade,

in Hoffnung auf die höchste Gnade,

doch auch voll Trotz mit scharfen Krallen,

denn jedem muss es nicht gefallen,

was man so alles hat vollbracht!

Hauptsache, es hat Spaß gemacht.

 

Drei Uhus, Schnabel neben Schnabel,

die hätten gern was auf die Gabel,

doch auf der Route ihres Lebens,

da sucht man Mäuse oft vergebens,

denn brotlos nennt man, was sie lieben

und schon seit Kindesbeinen üben,

mit Kompetenz und Konsequenz

und notfalls auch mit Renitenz,

von Zweiflern meistens unbeirrt,

nur selten an sich selbst verwirrt –

Kunst nennt man ihre Obsession.

Was das bedeutet, weiß man schon!

 

Drei Uhus, Krallen scharf gewetzt,

die halten ihr Terrain besetzt.

Sie ziehen Spuren, setzen Zeichen

und werden keinem Spötter weichen,

der meint, sie wären alt und grau –

sie wissen alle drei genau,

die Kräfte wachsen mit den Jahren,

kann man sich nur den Geist bewahren,

der immer Neues wachsen lässt.

Denn dann wird jeder Tag zum Fest!

 

Drei Uhus steigen hoch zum Himmel

und sehn herab auf das Gewimmel

von Freund und Feind aus nah und fern,

die Freunde kamen alle gern,

verborgen bleiben meist die Neider,

so ist das nun im Leben leider.

Doch können sie darüber lachen

(falls Uhus dies denn wirklich machen)!

 

Drei Uhus, Flügel dicht an Flügel,

erobern täglich neue Hügel,

sie ziehn zwar tapfer ihre Kreise,

nach guter alter Uhu-Weise,

doch Überflieger sind sie auch,

das ist bei Künstlern schließlich Brauch,

und will man Grenzen überfliegen,

dann kann genug niemals genügen.

Den Mut dafür schöpft man im Traum,

der öffnet kühnem Denken Raum

und schafft mit einer Portion Glück

den Uhu mit dem Adlerblick!

 

Drum seid willkommen, Ihr drei Greise,

in unserem hocherlauchten Kreise

der Abgeklärten und Verrückten,

vom Leben mit der Kunst Beglückten,

der Weltversteher, Geisterseher,

der Sinnverdreher, Streichbegeher

der Unfugmacher, Sinnloslacher,

der Dauer-Vernissagenkracher

mit Glatzen, Brauereitumoren,

mit klunkerschweren Neugierohren,

mit hart erworbnen Rettungsringen,

mit leicht geknickten Engelsschwingen,

mit einer Nase für das Neue

und einem Händchen für das Scheue,

mit schwerem Hintern, leichtem Sinn

– und Ihr seid einfach mittendrin!

Denn wenn das auch uns alle wundert:

Auch Ihr seid endlich unter Hundert!

 

Drum legt noch richtig einen zu!

Ich sage dazu nur: UHU!

 

Erfurt, 28.102005 | Dr. Jutta Lindemann