Es kann sehr unterschiedliche Gründe geben, warum zwei zusammen ausstellen. Der einfachste ist: Man kennt sich halt und kommt ganz gut miteinander klar. Und der zweite, ganz pragmatische: Einer hat was für die Wände und der andere für den Raum. Und beides trifft natürlich erst einmal auch hier zu.
Aber damit ist es in diesem Fall dann doch noch nicht getan.
Denn selbst wenn die Gewerke der beiden Erfurterinnen sich ebensowenig gleichen wie die Biografien, so verbindet beide eine Wahlverwandtschaft in ihrer Sicht auf das Leben und die Dinge, die ihnen darin wichtig sind, für die ihre Arbeit am sichtbarsten Zeugnis ablegt.
Und über beides – das individuell Besondere ebenso wie das Verbindende – soll nachgedacht werden, weil es dadurch vielleicht möglich wird, tiefer hinter das Gesehene zu blicken und über den ersten Anschein hinaus der Philosophie ihrer beider Kunst nachzuspüren.
Dabei gehen sie technisch wie gestalterisch doch auf den ersten Blick sehr verschiedene Wege.
Berit Henning entdeckt die Welt über die Steine und andere kleine Kostbarkeiten, die die Natur überall auf oder besser in ihr hervorbringt – mit all den Schätzen und Wundern, die sie verbergen und die sie für uns in all ihrer Pracht und Vielfalt der Farben und Strukturen ans Licht holt – wie etwa sonnenglühenden, „nur“ 6.000 Jahre alten afrikanischen Baby-Bernstein, nachtblau leuchtenden afghanischen Lapislazuli, schwarzweiß gebänderten chinesischen Lagenachat, in metallisch schillernden Opalen versteinerte Ammoniten aus Madagaskar, samtschwarze neuseeländische Meteoritensplitter, in mattem Altrosa funkelnde indische Rosenquarze mit raffiniertem Facettenschliff, aber auch kugelige Riesenbohnen aus Südamerika und dunkelglänzende Nüsse aus dem afrikanischen Swasiland – manches davon mitgebracht von eigenen Reisen.
Die Haltung der Schmuckkünstlerin den Juwelen gegenüber ist vor allem von Bewunderung und Ehrfurcht vor dieser Meisterleistung der Natur geprägt, die eigentlich kaum zu übertreffen ist. So tritt sie in deren Dienst und nimmt sich mit ihrem Gestaltungskonzept so weit zurück, dass sie neben der Realisierung der vorgegebenen Funktionalität eines Hals-, Arm- oder Ansteckschmucks sich zur Aufgabe macht, vor allem anderen den unverwechselbaren Charakter jedes einzelnen Stücks herauszuarbeiten. Und das phantasiebegabte Auge des Betrachters führt sie in kleine Zauberwelten wie unter dem Mikroskop: Gerahmt von einem Küstenstreifen aus hell schimmerndem Silber erscheint uns die wellige Landschaft eines Südseeatolls in einem Anhänger aus türkis geädertem Chrysokoll; der Halsschmuck mit einer Montage von Koralle, Porzellanarm und Silbernetz wird zum Griff in die Schatzkiste eines Piraten; kraftvolle Magie strahlt der düstere Flammenkreis des Hexenschmucks von bizarr gewachsenen nachtschwarzen Korallen aus, magisch verbunden mit Lavagestein aus den Tiefen der Erde und finsterem Onyx.
In jeder Hinsicht als kokette Surprise in Materialwahl und Auffassung tanzt da allerdings aus der Reihe der Steinparade mit rokokohaftem, fast satirischem Esprit eine heiter-helle Brautkette aus kleinen rosenbestreuten Porzellanscheibchen, durch einen Zufall entstanden wie eine launige Etüde und doch durchformuliert mit Präzision und Eleganz – ihren Witz entfaltet gerade diese Kreation erst im Kontrast zu einer exzentrischen Trägerin mit extrem minimalistischem modischem Outfit – als gekonntes Crossover von Menuett und Freejazz.
Berit Hennings Gespür für die Wirkung von Materialkontrasten steigert den jeweiligen Eigenausdruck des Steins, der wie ein Star die Bühne ihrer ästhetischen Inszenierungen betritt, um dann im selbstbewußtem Dialog zumeist mit kühl verhaltenem Silber, zuweilen aber auch mit wollig-warmem Filz, rostig-rauhem Eisen, stumpf-weichem Kautschuk oder lebendig leuchtenden Federn allmählich den Reichtum seiner unverwechselbaren Persönlichkeit zu entfalten.
Wie bei einem wirklich einem guten Akteur ist die Präsenz jedes dieser Steine umso stärker, je mehr seiner Individualität in seinen natürlichen Konturen und plastischen Ausprägungen mit allen oft über die Jahrhundert oder sogar Jahrtausende seines Heranwachsens entstandenen Unregelmäßigkeiten, Ecken und Kanten ausreichend Spielraum gelassen wird.
Und anstatt mit handwerkliche Perfektion als eigenem Wert zu brillieren, dient diese bei Berit Henning dem Ziel, dem Stein die ihm angemessene Bühne zu bieten. Sie akzeptiert den Stein als eigenwilligen Partner in einem Spiel, in dem zwar sie die Regeln bestimmt, jedoch zugleich auch neugierige und immer aufs neue faszinierte Mitspielerin ist – mit allen reizvollen Risiken zwischen Erfahrung und Entdeckung, Spannung und Überraschung, Sieg und Niederlage.
Den aufmerksamen Betrachter und Träger ihres Schmucks weiht sie zumindest in einige dieser Regeln ein und lässt ihn ein wenig mitspielen, falls er genügend Ehrfurcht und Spiellaune einzusetzen bereit ist. Und genau an dieser Stelle springt der Funke zu Freundin Hannelore Reichenbach über und auch wieder zurück – es entsteht eine auch für uns sichtbare Brücke aus verwandten Kunstpositionen und Lebenshaltungen, mit einer Hochachtung vor der Klarheit und Kraft natürlicher Materialien und Strukturen als gemeinsamer Basis.
Hanne Reichenbach hat ihr Oeuvre über die Jahre ihres Schaffens hinweg behutsam und unspektakulär, doch konsequent und unabhängig von allen modischen Spurwechseln ringsumher geradlinig genau in diesem Geist wachsen lassen.
Ihre Textilauffassung bindet sie bewusst an traditionell scheinende, doch in Wahrheit in ihrer Vielfalt zeitlos unvergängliche klassische Techniken – wie die Weberei, die Applikation, das Häkeln und das Sticken – und entwickelt daneben und daraus immer wieder unorthodoxe, doch verwandte Varianten wie das Umwickeln biegsamer Drähte mit farbiger Wolle für skurrile Skulpturen oder seit einiger Zeit das Flechten großflächiger Wandarbeiten oder Raumobjekte aus nur leicht geglätteten Papierbahnen.
Meist ist es der Faden oder in Variation das Band als Grundelement, aus sie dem in Ruhe und aus einem durchdachten Konzept heraus sukzessive eine Fläche unter ihren Händen hervor wachsen lässt – Faden an Faden an Faden an Faden in Zeit und Raum – wie ein Stein in der Erde Schicht um Schicht um Schicht um Schicht unaufhaltsam in all seiner Stille und Pracht heranwächst, zuweilen frei und locker montiert, zuweilen auch expressiv und explosiv in Formulierung und Farbigkeit, doch oft auch in streng rhythmisch gerasterten kompositorischen Gefügen, immer aber akzentuiert und oft neu interpretiert durch heitere Details von subtilem Witz, die lebendige, materialtypische Oberflächentextur und eine kultivierte Farbgebung entweder in klaren Kontrasten bis hin zur Konsequenz des Schwarzweiß oder in sanft modulierten Tonwert-Skalen.
So entstehen beispielsweise raumgroße, im besten Sinne dekorative Gestaltungen, zwar orientiert an zeitgenössischen Kunstauffassungen, doch eindeutig von Hanne Reichenbachs Handschrift geprägt, daneben aber auch kostbare heitere Miniaturen.
Denn nach genau diesem Prinzip fügt ihre poetische Phantasie immer wieder aus der schier unüberschaubaren Sammlung textiler Fundstücke in ihren reich gefüllten Schatztruhen wie zufällig und doch mit traumwandlerischer ästhetischer Sicherheit Spitzen, Bänder, Borten, oft zusätzlich miteinander verbunden durch Lineaturen, Schraffuren, Texturen aus grafisch gegliederter feiner Handstickerei, nachdenklich zu zauberhaften Textilmärchen aneinander – Bildgeschichten wie aus einer sagenhaften Zwischenwelt voller Traumschiffe, Hexenhäuser, Feenstädte – Welten, die sich in der Magie ihrer stillen Sinnlichkeit vor allem über die durch uns zu entdeckenden oder eben auch zu erträumenden Wesenheiten und Schicksale jedes einzelnen Elements erschließen.
Ein wenig teilhaben an Hannelore Reichenbachs Lust am Zauber der Märchen können wir privilegierten Erfurter seit langem alljährlich auf dem Weihnachtsmarkt in unserem wahrhaft unvergleichlichen Märchenwald, deren phantastische und vielgeliebte Fabelwesen nach den Brüdern Grimm und Hans Christian Andersen in Zusammenarbeit mit dem Holzbildhauer Kurt Buchspieß unter ihren Händen zum Leben erwachten.
Das Magische, Märchenhafte in den Dingen des Lebens, den Erfahrungen und Erlebnissen der Wirklichkeit zu entdecken und über den besonderen Weg der Kunst auch für uns erlebbar zu machen, kann eine lebenslange und sehr ernsthafte Aufgabe sein, die ebenso Freude wie auch Mühe bereitet. Kraft und Zartheit, Empfindsamkeit und Phantasie, aber auch eine gehörige Portion Durchstehvermögen sind dafür dringend erforderliche Eigenschaften, die auch Künstlerinnen wie Berit Henning und Hannelore Reichenbach ebenso zusammenführen wie ihre Neugier auf das, „was die Welt im Innersten zusammenhält“, um wie heute die Ergebnisse ihrer langjährigen Gratwanderung zwischen den unterschiedlichen, aber im glücklichsten Fall einander ergänzenden und inspirierenden Wirklichkeiten von Kunst und Leben auch anderen zu präsentieren – in der Hoffnung, dass wir diesen Ariadne-Faden aufnehmen, der uns ins Innere des Labyrinths führt, das letztlich unser eigenes Inneres ist, und auch wieder heraus, um dadurch möglicherweise ungeahnte Kräfte in uns freizusetzen und Lebensmut zu geben – vielleicht auch im Geist von Heinrich Heine, dessen Todestag sich am 17. Februar zum 150. Mal jährte:
Herz, mein Herz, sey nicht beklommen,
Und ertrage dein Geschick,
Neuer Frühling giebt zurück,
das der Winter dir genommen.
Und wie viel ist dir geblieben!
Und wie schön ist noch die Welt;
Und, mein Herz, was dir gefällt,
Alles, alles darfst du lieben!
(Buch der Lieder/Die Heimkehr/XLVI)
Erfurt, 05.04.2006 | Dr. Jutta Lindemann