Also das Motto dieser Ausstellung kommt ja meiner abgrundtiefen Faulheit sehr zupass: So wie Ute Zyrus über eine Auswahl ihres Schaffens der letzten sechs Jahre ein Bild ihrer aktuellen Kunst- und Weltsicht mosaikartig zusammenfügt, kann ich adäquat in meine virtuellen Töpfe greifen und damit zurück auf meinem Ute-Zyrus-Textfundus, der inzwischen aus mehreren Vernissagen gut gefüllt ist.
Und ob Sie das dann immer merken, wird sich noch herausstellen!
Möglich macht das die Konsequenz der künstlerischen Konzeption der Nordhausener Künstlerin.
Die schillernde Faszination eines Wachtraums zwischen Architektur und Abgrund, Kristallwelt und Kulissensprung, Gedankenstrenge und Gefühlsverwirrung, Mathematik und Malerei ergreift auf den ersten Blick sofort auch Besitz von uns, vielleicht in der Hoffnung auf den versöhnenden Kompromiß, der sich in unseren Köpfen schon anbahnt. Halloween der Hoffungen – denn auch das bleibt Illusion: Versöhnung darf es nicht geben. Die Brücken der Malerei sind trügerisches Spiel, schwankend unter dem ersten festen Schritt über das Niemandsland zwischen den Welten, zwischen Außen und Innen, zwischen der Wirklichkeit diesseits und allen Wünschen, Träumen, Ängsten jenseits der Spiegel, der Wände – außerhalb aller Rahmen. Vielleicht ist das Konzept der Ute Zyrus gar nicht so neu – aber:
Muß es das denn sein? Was wir sehen, zeigt die Doppelbödigkeit alles Wirklichen, die Dualität alles Menschlichen, ein Sein hinter dem Sein, das real genug ist, um das Diesseits nachhaltig zu durchdringen und zu beherrschen. Souveränität ist nur über Akzeptanz zu gewinnen – das Spiel nur zu lernen durch Mitspielen …
Nacherlebbar über diese immer wieder gesprengten strengen Gliederungen der Geometrie, über diese immer wieder von warmen, hellen Farben überstrahlten kühlen Töne ist in jedem Fall ein Seelenzustand manchmal verzweifelter, doch immer wieder hoffnungsvoller Suche nach Fluchtwegen, die hin zu Klarheit und Wahrheit führen. Durch all die Mauern, Türen, Gitter, Netze, Brüche, Risse, durch all die Trübnis, Wirrnis, Ängste, Zweifel dringt behutsam, doch unaufhaltsam das Licht künftiger Möglichkeiten.
Es bezieht seine Leuchtkraft aus der Energie unserer Visionen, aus der Stärke unseres Selbstvertrauens und aus dem Mut zu Veränderungen in uns und um uns, wie die Kunst sie uns vorlebt.
„Die Wirklichkeit ist das, womit man unter gar keinen
Umständen zufrieden sein … darf … Und sie ist … auf keine
andre Weise zu ändern, als indem … wir zeigen, daß wir
stärker sind als sie“, schreibt Hermann Hesse.
Dieser Text – heute leicht gekürzt – entstand vor fast 10 Jahren.
Hätten Sie`s gewusst? Na, sehen Sie?
Hatten Sie aber doch leichte Zweifel – umso besser! Denn ohne sich untreu geworden zu sein, ist Ute Zyrus natürlich auch nicht mehr dieselbe.
Der Kontrast von Hell und Dunkel, Kalt und Warm, Linie und Fläche verdeckt Reales und deckt Irreales auf, etwa wenn … mitten durch eine ferne Sehnsuchtslandschaft hautnah vor uns ein helldunkel pulsierender Schnitt wie ein Blitzstrahl der Erleuchtung aus einer fremden Welt eine neue Raum-Zeit-Ebene aufbricht. Vorn und hinten, nah und fern tauschen dann zu unserer Verwirrung ihre Plätze, und wir erkennen: Der Schein trügt, Bildwelten aus Wänden, Böden, Decken brechen ein, brechen auf, brechen aus – wohin? Das zu sehen, ist an uns – Ute Zyrus zeigt die Türen, hilft, sie zu öffnen – sie durchschreiten müssen wir selbst.
Ute Zyrus, gelernte und allen künstlerischen Ambitionen zum Trotz auch immer noch praktizierende Lehrerin, gehört zu den in diesem Beruf nicht seltenen Wiederholungstätern, die es damit nicht genug sein lassen können, wehrlose Kinder mit Kunst zu traktieren – nein, diese in ihrer Zahl unaufhaltsam sich vermehrende Spezies produziert dieselbe auch noch selbst!
Für Thüringen ist ein solcher Casus nicht ungewöhnlich, wenn auch in jedem Fall ein Fall für sich – ob nun es nun Museumsdirektoren, Kunsthandwerker jeder Couleur, Kunstwissenschaftler, Galeristen, Maler oder Modedesigner beiderlei Geschlechts sind, die aus dem Lehrerstudium hervorgegangen sind.
Denn die Brutstätte vieler derart unrettbar vom Kunstvirus Infizierten ist eindeutig zu orten: das damalige Institut für Kunst der Pädagogischen Hochschule, heute Universität Erfurt …
Die Gedankenpuzzle der Ute Zyrus unterscheiden sich von dem, was wir landläufig unter diesem Begriff kennengelernt haben: Sie fügen nicht flache Elemente zu Bildern, sondern verbinden erlebte und geträumte Räume durch Wege hinein und hinaus miteinander zu einem riesigen Weltlabyrinth im eigenen Kopf – zögernd und doch voll der ungehemmten Abenteuerlust eines Parzival oder Simplizissimus zu erwandern mit Geist und allen weit offenen Sinnen – auf der Suche nach dem Gral der ewigen Wahrheit oder dem Paradies des inneren Friedens.
Na, Miss Marple, Sherlock Holmes und Hercule Poirot? Aufgemerkt!
Denn dies konnte bereits 1998 und 2001 über die inzwischen nicht nur in der Thüringer Kunstwelt erfolgreich präsente Malerin gesagt werden, die sich über Jahre intensiver Auseinandersetzung mit den einander durchdringenden Gesetzen von Kunst und Wirklichkeit sukzessive ein unverwechselbares Profil erarbeitet hat.
Doch wer ihre Spuren aufmerksam bis in die Gegenwart verfolgt, entdeckt durchaus neue Indizien, die die Verdächtige als unheilbar wandlungsfähig identifizieren – wenn auch in so behutsamer Weise, dass es schon unseres konzentrierten künstlerischen Spürsinns bedarf.
So verschmelzen neuerdings – anders als in den stärker von Kontrasten und Widersprüchen geprägten Bildwelten früherer Jahre – in ihrer nun immer stärker von klaren Liniengefügen getragenen grafisch akztentuierten Bildsprache – sinnlich und nachdenklich zugleich – nahezu mühelos Technoides mit Organidem, Gebautes mit Gewachsenem in einer trotz oder vielleicht auch gerade wegen aller Kontraste geradezu märchenhaften Harmonie, die in ihrer gläsernen Transparenz und Transzendenz in unserem Innern auf dem Wege der synästhetischen Wahrnehmung einen Klangteppich wie eine Bachfuge erklingen lassen könnte, voll ausgeglichener Gelassenheit und Spiritualität. Dabei richtet sich der Focus ihrer bildnerischen Aufmerksamkeit seit einiger Zeit von der großzügigen Perspektive architektonischer Welten und Gegenwelten im Spiegel seelischer Strukturen nunmehr auf den Mikro-Makro-Kosmos der Dingwelt in den selbstverständlichen Metamorphosen der kleinen alltäglichen Wunder zwischen Klarheit und Wirrnis, Härte und Sanftmut, Sinnlichkeit und Sachlichkeit, Erstarrung und Erwachen.
Dominierten nach kubisch-tektonisch formulierten Spiegelwelten dann zunächst phantasievolle Choreographien für tänzerisch leichte Zeichenwirbel wie auf einer leuchtenden Show-Bühne, deren fragil ausbalanciertes Gegen- und Miteinander die veränderliche Verletzbarkeit menschlicher Beziehungsgefüge symbolisierte, so formen sich nun aus wie hingeschrieben fließenden Liniennetzen die kristallinen Kanten differenziert durchgegliederter Körper von Knospen, Kapseln, Kokons in verschiedenen Stadien zwischen frei wucherndem Gewächs und geometrisch geformtem Gegenstand, oft wie durch eine Nabelschnur miteinander verbunden.
Inzwischen perfekt beherrschtes Handwerk ermöglicht Ute Zyrus in der von ihr bevorzugten Ölmalerei ebenso wie in den selteneren Farbradierungen einen transluziden seidig-aquarellhaften Farbauftrag, der den schwebenden Charakter der wie von innen leuchtenden, sanft modulierten Flächen den federnden, gleitenden, fließenden Liniengittern adäquat zugesellt – verhalten changierend, irisierend zwischen kühlen und wärmeren Tonwertskalen.
So, wie die Linie zunehmend inhaltlich ordnende wie formal gliedernde Aufgaben in einem logisch durchdachten Bildaufbau übernimmt, verbindet ein konsequent auf den Orange-Blau-Komplementär- und Temparaturkontrast reduziertes durchgängiges Farbkonzept alle Arbeiten wie eine logische Gedankenkette miteinander – allesamt Teile des großen Puzzles einer künstlerisch formulierten Idee von der Welt hinter der Welt.
Diese scheinbare Einengung der gestalterischen Palette scheint nur auf den ersten Blick langweilig oder phantasielos. Tatsächlich hält sie die Elemente des Puzzles kompatibel, denn sie konzentriert unsere Wahrnehmungen bei aller Vielfalt der einzelnen Teile auf die philosophische Grundidee und entkleidet sie aller Äußerlichkeiten und kunstgewerblich eitlen Schnörkel.
Daraus bildet sich zudem wie nebenher auch die mittlerweile unverwechselbare individuelle künstlerische Handschrift der Ute Zyrus: Texturen, Strukturen, Rhythmen, Farben, Formen, Stofflichkeit der Materialien – Konsistenz der Farben und der Malgründe – sprechen im Miteinander für sich selbst und lassen gerade durch den Assoziationsreichtum, der vorrangig aus dem Eigenwert ihrer puren Existenz fast ohne eingrenzende bildnerisch ausgeformte Zeichenvorgaben entsteht, Spielräume zum eigenen Denken und Fühlen für uns offen.
Genau, meine Damen und Herren Detektive – Sie haben mich und Ute Zyrus nun endlich mal auf frischer Tat ertappt – letzteres galt vor fünf Jahren wie es noch heute gilt. Wir haben Sie immer mal wieder ein bisschen an der Nase herumgeführt, wie es von einem guten Krimi ebenso verlangt wird wie von der Kunst. Die Auflösung wird nicht fertig serviert, Sie müssen sich die Bruchstücke schon selbst zusammenfügen bis zum letzen Teil des Puzzles – wenn Sie das denn je finden sollten. Und das aktiviert eine gehörige Portion eigener Phantasie, Sensibilität und Lebenserfahrung in jedem, der sich auf den Kriminalfall Kunst einlässt. So bleibt alles immer spannend – bis zum oft überraschend Ende!
Manchmal geben Bildtitel dabei Aufschlüsse, manchmal stürzen sie in produktive Verwirrung, legen falsche Fährten, die, überlassen wir uns unseren letztlich untrüglichen Gefühlen, schließlich doch noch eine zwingende Indizienkette bilden.
Zum Exempel: Die globalen Lebensstrukturen in jedem Samenkorn zu entdecken – pars pro toto – führt zur Erkenntnis dessen, „was unsere Welt im Innersten zusammenhält“ – und so führt eben gerade die Kunst in ihrer spezifischen Verknüpfung von Intellekt und Intuition beim Blick auch auf die scheinbar geringsten Dinge des Lebens uns in Sichtnähe des immer wieder viel gesuchten Grals. Doch werden wir ihn jemals in den Händen halten? Wie in vielen anderen Fällen ist wohl auch hier der Weg das Ziel.
Wenn man es so betrachtet, haben wir heute gemeinsam die Bruchstücke zu unserem eigenen Gral zusammengefügt: ein in aller Ruhe – denn Spektakel und Furore um ihre Person ist Ute Zyrus’ Sache nicht – gewachsenes, durchaus beachtliches künstlerisches Ouevre von ganz eigener Ausstrahlung nämlich, das uns durch seine stille innere Kraft auf besondere, fast magische Weise – heiter und zugleich nachdenklich – in seinen Bann zieht. Und ich meine, es könnte sich lohnen, ihr auch künftig auf der Spur zu bleiben.
Erfurt, 8. Juni 2006 | Dr. Jutta Lindemann