Wer heutzutage als Stadt auf sich hält, will sich vermarkten und sucht zu diesem guten Zweck, der ja bekanntlich die Mittel heiligt, krampfhaft nach einem sogenannten Alleinstellungsmerkmal.
In der Marketingbranche ist das eine Eigenschaft, die niemand anderes aufzuweisen hat und die deshalb ihren Träger aus der undefinierbaren Masse der Konkurrenten unverwechselbar heraushebt.
Auch Erfurt ist heftig auf der Suche: Blumen, Dom und Türme beispielsweise trudeln schon lange durch die Hirnwindungen unserer Marketing-Strategen. Aber nichts hat bisher so richtig gezündet, denn, Blumen, Dome und Türme haben eben viele andere Städte auch, und das, ebenso wie Erfurt, schon ziemlich lange. Doch warum in die Geschichte schweifen, wenn die Gegenwart doch viel näher liegt? Warum richtet man eigentlich nicht endlich den Blick auf Besonderheiten, die es noch gar nicht so lange gibt, die aber dafür tatsächlich ihresgleichen suchen.
Ich hätte da einen Vorschlag: Erfurt, Stadt der Emailkunst!
Denn was unter dieser Flagge seit rund 10 Jahren gewachsen ist, hat nicht nur kaum Vergleichbares in anderen deutschen Städten auszuweisen – es hat auch inzwischen den Namen unserer Stadt europaweit in der Kunstszene bekannt gemacht – wie übrigens es das auch das Forum Konkrete Kunst und das Erfurter Schmucksymposium tun.
Hier wird nicht einfach Kunst aus Europa ausgeliehen und vorgezeigt, denn auch das können andere Städte ebenso; hier treffen europäische Künstler zusammen und schaffen neue Kunst – unter dem Dach der Erfurter Künstlerwerkstätten.
Darauf kann nicht nur Erfurt, darauf kann ganz Thüringen stolz sein – und außerdem dankbar dafür all denen gegenüber, die diesen gewaltigen Stein ins Rollen gebracht haben und ihn bis heute in Bewegung halten: Frau Betina Wolf und Frau Bierwisch als Leiterinnen der Künstlerwerkstätten beispielsweise, aber vor allem auch engagierte Künstlerinnen und Künstler wie Uta Feiler aus Erfurt, Barbara Lipp aus Karlsruhe und – ja, und die Künstlerin, die wir heute mit dieser Ausstellung ehren wollen: Marie-Thérèse Masias aus Frankreich!
Sie gehört dank ihrer weltweiten Kontakte, gewonnen nicht zuletzt auf zahlreichen Reisen, zu den Müttern der inzwischen alljährlich mehrmals und auch gerade jetzt wieder in der Lowetscher Straße von Erfurt stattfindenden produktiven Begegnungen von Email-Fans aus Dänemark, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Japan, den Niederlanden, Tschechien, Ungarn und den USA.
Und auf der diesjährigen Präsentation von deutschen und französische Teilnehmern des Emailsymposiums anlässlich des Deutsch-Französischen Jahres im Mai in diesem Haus mit dem Titel „Bienvenue“ machten bereits einige Exponate von ihr neugierig auf diese Personalpräsentation – zum einen im Kontext diese Rendezvous-Jahres, aber auch anlässlich des 75. Geburtstages der Künstlerin (ich weiß, man kann es eigentlich gar nicht glauben!!!) – für uns, ihre Erfurter Partner und Freunde natürlich eine Selbstverständlichkeit und eine Ehre. Denn Marie Thérèse Masias, 10 Jahre lang bis 2005 Präsidentin und seitdem Ehrenpräsidentin der französischen Email-Organisation G.I.R.A.E.F.E., ist auch in der internationalen Kunstszene eine Persönlichkeit mit starker Ausstrahlung: Sie wirkt aktiv an der Entwicklung der Emailkunst nicht nur in ihrer Heimat und in Deutschland mit, sondern auch in den von ihr anlässlich von Symposien bereisten Ländern Osteuropas wie früher der UdSSR und später Russland oder Ungarn, und unterhält intensive Kontakte zu Emailkünstlern in ganz Europa.
Francis Lavoute aus der traditionsreichen französischen Email-Stadt Limoges schreibt im Faltblatt zur Ausstellung über Marie Thérèse Masias: Als dominanter Ausdruck ihrer Kreationen erscheint die Reflexion über Themen, die sich mit sozialen oder psychologischen Gegebenheiten beschäftigen, mit den existentiellen Fragen des Menschen im Verhältnis zu den Zeichen und Rätseln seines Schicksals.
Bereichert durch ihre zahlreichen Reisen in die fünf Erdteile sowie durch ihre Kenntnisse auf verschiedenen künstlerischen Gebieten, überträgt Marie Thérèse Masias mit ihrer kreativen Ökonomie der Mittel die oben angeführten Themen in Kompositionen, in denen das zerschnittene, geformte und emaillierte Metall in reduzierten Räumen Inszenierungen voller Präsenz schafft.
Der gewählte Titel für die Erfurter Exposition „Mouvement arrêté“ meint diesen ganz besonderen Blick der Künstlerin auf die momentane Situation, wie sie scheinbar spontan und wie flüchtig auf die Emailplatte gebannt wird – der festgehaltene Augenblick des Erlebens in seiner zum Bild geronnenen Bewegung als Zeugnis für die Vergänglichkeit des Wirklichen, bewahrt in der Fiktion der Kunst.
Dies erreicht sie durch eine eigenwillige expressiv-dynamische Handschrift: mit skizzenhaft fließenden oder karikaturhaft gebrochenen Linien, zwischen sprunghaften Schatten-Schraffuren dahinjagenden Silhouetten, schroff und scharf in den Raum hinaus gebrochenen plastisch-kantigen Konturen – zu alptraumartigen Bildfolgen oder satirisch-theatralischen Inszenierungen montiert. Die Farbskala bewegt sich dabei je nach künstlerischer Absicht vom sanft modulierten Grau- und Pastelltönen über holzschnittartige Schwarzweiß-Kompositionen bis zu kraftvoll leuchtenden Farbkontrasten unter Einbeziehung der eigenen Farbcharaktere der unterschiedlichen Metallgründe von Kupfer oder Stahl.
Im eigenen Figurenkosmos der Grande Dame der französischen Emailkunst trifft die sensibel beobachtete Alltagswelt auf fabulöse Figurationen mit Tiefsinn und Witz oder auch von märchenhaft-dekorativer Prachtentfaltung – Marie Thérèse Masias, die hier mit uns auch Rückschau auf ihr reiches Lebenswerk hält, brilliert virtuos auf der gesamten Klaviatur der handwerklichen und der gestalterischen Möglichkeiten dieses immer wieder faszinierenden Metiers.
Ihre über Jahre konsequent entwickelte Handschrift ist originell und ungewohnt für die Erfahrungen hiesiger Emailkünstler, die seltener die Fläche so stark in den Raum hinein aufbrechen wie sie und oft strenger in einer eher abstrakt-konstruktiven Auffassung arbeiten, wie auch sie in einer Hommáge an Erfurt mit liebevoll-lockerer Ironie wiederspiegelt.
Jedoch ein Aspekt überstrahlt wohl alles: Man spürt aus jedem Detail ihre unerschütterliche Liebe nicht nur zu ihrem Beruf, sondern vor allem auch zu den Menschen, auf die sie ihr scharfes Auge richtet und deren Eigenheiten sie aufmerksam registriert, um sie uns mit nachdenklichem Augenzwinkern vorzuführen: das selbstvergessene Liebespaar in der Intimität der nächtlichen Kammer, die stillen Alten auf ihrer Bank, die glubschäugige fernsehbesessene Familie, die kunterbunte Beziehungsmenagerie Wand an Wand in einem Mietshaus, die durch die Straßen wirbelnden Rollschuhfahrer, die genießerischen Eisesser aus der Erfurter Marktstraße, die mystisch schimmernden müden Gesichter in der Metro am Montagmorgen. Manchmal sprechen auch nur die zurückgelassenen Gegenstände eines raffiniert gebauten Interieurs zu uns: über Einsamkeit und die Sehnsucht nach Wärme und Geborgenheit, und wenn es nur durch die Nähe eines Tieres ist. Dann wieder umtost eine Familie die Zeichenwelt des modernen Alltags zwischen Medienflut und Tempowahn. Daneben stehen ernsthafte, doch mit Humor vorgetragene thematische Inszenierungen historisch-philosophischer Themen wie das der Arche Noah. Und eine alptraumhafte Erinnerung an ihren vorigen, sehr geliebten Beruf beschwört die Karikatur eines brüllend aufgeplusterten Lehrers herauf.
Aber das Thema der Ausstellung ist vor allem sie selbst: ein in ihrer körperlichen wie geistigen Dynamik kaum zu bremsendes Temperamentsbündel, rasant wie ihr kleines Auto und explosiv wie ein Vulkan, spontan leidenschaftlich in der Bekundung ihrer herzlichen Zuneigung zu Freunden, die sie so schnell erobert wie ein Napoleon (aber auf Dauer weitaus glücklicher als dieser) – und doch zugleich von intensiver Tiefe in der Auseinandersetzung mit den Menschen ihrer Umgebung und den Problemen ihrer Zeit, die sie jeden Tag heftig beschäftigen.
Und genau so wünschen wir sie uns noch viele Jahre, werfen schon mal visionär hoffnungsvolle Blicke auf die Jubiläumsexposition zum 80. und freuen uns heute erst einmal an dieser kleinen Auswahl aus einem großen Lebenswerk, zu dem wir nur voller Bewunderung herzlich gratulieren können – vielleicht mit ein paar Versen des Granden der französischen Literatur Paul Verlaine:
C’est d’être un sourire
Au milieu des pleurs,
C’est d’être des fleurs
Au chaump du martyre,
C’est d’être le feu
Qui dort dans la pierre,
C’est d’être en prière,
C’est d’attendre un peu!
Sein muß man ein Lächeln
In der Tränenwelt,
Im Märtyrerfeld
Sein ein Blumenfächeln,
Sein die Glut,bereit,
Aus dem Stein zu springen!
Betend sich aufschwingen!
Warten kurze Zeit!
BIENVENUE! CONGRATULATION! MERCI BEAUCOUP – MARIE THÉRÈSE!
Erfurt, 2. September 2006 | Dr. Jutta Lindemann