Die Wissenschaft hat sich geirrt! Es ist nicht die Anzahl der Gehirnwindungen oder irgendein besonderer von Goethe entdeckter Knochen, nicht der aufrechte Gang oder der Gebrauch von Werkzeugen!
Nein, der Mensch unterscheidet sich vom Tier vor allem dadurch, dass er sich einfach von nichts trennen kann.
Ob Briefmarken, Münzen, Steine, alten Schmuck oder moderne Grafik, schon deswegen so genannte Sammeltassen oder ganze Schränke voller abgetretener Schuhe, ausgelesene Liebesbriefe oder verkrakelte Märchenbücher, vergilbte Kinderfotos, mottenzerfressene Klamotten und verschrammte Klunker aus Omas Eichentruhe – Menschen haben seit der Steinzeit einen Trieb, sich mit Gegenständen wie mit einem wärmenden Schutzwall zu umgeben.
Jäger und Sammler zu sein, ist eine jahrtausendealte, zuweilen sogar bis zum krankhaften Exzess führende Leidenschaft, die durch mehr oder weniger leicht zu erringende Erfolge schnelle Befriedigung und Anerkennung verspricht, aber auch in den Dingen des Lebens, zwischen denen wir uns einrichten, unsere Existenz materiell-sinnlich manifestiert, sie in ihrer Einmaligkeit nachzeichnet und für uns selbst fassbar, begreifbar, aber auch für andere sichtbar macht.
Opas Fotoalbum, Mutters Sammeltassen (nomen est omen), Erbstücke, Reisemitbringsel und Trödelmarktschnäppchen, alte Zeitungen, Schallplatten, Briefe und Ansichtskarten, von langjährigem Gebrauch und Verfall gezeichnete Teile von Maschinen und Geräten, die unseren Alltag begleiteten – sie alle wecken schon beim bloßen Betrachten Erinnerungen an Menschen und Situationen, die unser Leben unverwechselbar geprägt haben.
Doch zugleich entwickeln sie durch das Herauslösen aus ihrem ursprünglichen Kontext einen ganz neuen ästhetischen Reiz, der ihnen eine eigenwillige Persönlichkeit von unabhängigem Charakter verleiht und sie auf diese Weise zum Gegenstand von Gestaltung in neuen Sinnzusammenhängen prädestiniert – plötzlich Hauptdarsteller in einem ganz neuen Stück Leben.
Die bildende Kunst kann eine besondere Gegenwart entstehen lassen, indem sie Bilder unserer Erinnerung mit unseren Hoffnungen auf Zukunft verschmilzt, denn Künstler unterschiedlichster Genres jagen und sammeln ohne Unterlass, was sie sehen, erleben, erfahren, träumen, wünschen, fürchten – im Kopf, im Herzen oder auch ganz handfest und praktisch in Gestalt von Gegenständen, oft auch nur Bruchstücken davon, Fotos, Materialien, Skizzen, Worten, Texten, Tönen …
Aus diesen materiellen und virtuellen Erinnerungen und Beobachtungen bilden sie einen individuellen Fundus, der ihre Persönlichkeit und ihr damit verbundenes künstlerisches Konzept charakterisiert – visionäre Fantasie ist dann das entscheidende Werkzeug, um daraus Kunst zu formen.
Nachdem expressive Malerei zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Gesetz der Einheit von Zeit und Raum radikal brach und unterschiedliche Raum- und Zeitebenen mischte, überlagerte, verschmolz und damit – in Entsprechung zu den Fähigkeiten des menschlichen Gehirns, anknüpfend an die Erkenntnisse etwa eines Sigmund Freud – neue Wege der künstlerischen Erkenntnis und Interpretation von Wirklichkeit und Wahrheit beschritt, wurde durch Künstler wie die Kubisten Georges Braque und Juan Gris, den Surrealisten Max Ernst, die Dadaisten Hannah Höch und Kurt Schwitters und natürlich den in vielen Kunstrichtungen innovativ erfolgreichen Pablo Picasso bereits vor rund 100 Jahren mit den Verfahren von Collage und der daraus entwickelten, mit Objekten dreidimensional agierenden Assemblage Möglichkeiten erschlossen, um die Grenzen zwischen Fiktion, Illusion und Realität endgültig zu überspringen – später gern aufgegriffen von Pop-Art-Künstlern wie Robert Rauschenberg und der neodadaistischen Fluxus-Bewegung um Joseph Beuys.
Max Ernst definierte die Technik der Collage, die nach ihrer Erfindung in der bildenden Kunst auch Eingang in andere künstlerische Sparten wie die Musik, die Literatur, dasTheater und den Film fand, so: Collage-Technik ist die systematische Ausbeutung des zufälligen oder künstlich provozierten Zusammentreffens von zwei oder mehr wesensfremden Realitäten auf einer augenscheinlich dazu ungeeigneten Ebene – und der Funke Poesie, welcher bei der Annäherung dieser Realitäten überspringt.
Entscheidende Grundlage ist das Vermögen zum Umdenken funktionaler Bezüge und Bedeutungen, mit denen Materialien und Gegenstände ursprünglich behaftet sind, zugunsten neuer Sinnzusammenhänge – Voraussetzung dafür wiederum eine poetisch-visionäre kreative Phantasie, die immer auch den Mut zum Zerstören von Vorhandenem erfordern – eine Gratwanderung, verbunden zwar mit der Absicht, daraus Neues entstehen zu lassen wie einen Phönix aus der Asche, aber auch mit dem Risiko des Misslingens und damit endgültigen Verlustes des zuvor Zerstörten.
Doch dieser Mut entspringt auch einer gehörigen Portion der ungewöhnlichen Mixtur aus Frust und Lust: Frust auf Perfektes, Fertiges, scheinbar Unveränderliches und Unangreifbares und die befreiende Lust daran, all das in Frage zu stellen und schließlich zu zerstören, um damit diesen Frust abzuregieren – aber daneben auch eine schlichte sinnliche Freude am Material und seinem Reichtum an Möglichkeiten, seinen vor allem haptisch-taktilen Eigenschaften, seinen noch unentdeckten Potenzen zur Veränderung.
Und vielleicht steckt hinter allem zu guter Letzt auch die alte Oma-Weisheit, auf die sich alle Jäger und Sammler bis hin zum besessenen Messie berufen: „Man kann alles nochmal irgendwie gebrauchen!“
Aber nicht nur durch die Verwendung von über längere Zeiträume Gesammeltem und Bewahrtem verweist die Collage deutlicher als andere Verfahren auf das Prozessuale von Kunst als Lebensmodell, sondern auch zum einen durch das die Endlichkeit alles Bestehenden voraussetzende Zerstören und Auflösen von Vorhandenem und zum anderen durch das die Zeitlichkeit jedes Vorgangs betonende deutlich erkennbare Aneinander- und Übereinanderlagern von Einzelelementen.
Kati Münter steigert diesen Eindruck von Flüchtigkeit häufig durch eine über die montierten Elemente gearbeitete dynamische malerische Diktion und in oft nur fragmentarischen Druckspuren aufgestempelte Textteile, die an unsere alltägliche bruchstückhafte Wahrnehmung von Informationen erinnern.
Und neben der kühnen, doch genau ausbalancierten Bildkomposition konzentriert eine subtile, innerhalb einer großen Skala von naturhaften Papiertönen modulierte Farbigkeit mit sparsam und gezielt gesetzten Kontrasten die Aufmerksamkeit auf genau jene Elemente, die diese Anmutung absichtsvoll verstärken, unterstützt durch sorgsam gewählte knappste Bildtitel von hintergründiger, ambivalenter Poesie.
Es macht Spaß, zusammen mit Kati Münter lustvoll knisternd und raschelnd in ihren schier unergründlichen leimduftenden Zeit-Schatz-Truhen zu stöbern, denn jeder Mensch mit einem reichen assoziativen Erinnerungsvermögen entdeckt darin – so wie in jeder guten Kunst – schließlich über die differenzierte Individualität einer Künstlerpersönlichkeit hinaus das in Zeit und Raum aus einer schier unüberschaubaren Fülle von Lebensstücken herangewachsene und immer wieder zu einem neuen Bild gefügte, in Tausenden Facetten schillernde und so im wahrsten Sinne unfassbare eigene Ich – ein unverwechselbares und vergängliches Körnchen Sternenstaub im Universum.
Und ob er darüber lachen oder weinen soll, bleibt letztlich ihm selbst überlassen.
Eine Überfülle an emotional aufgeladenen, manchmal auch skurril sinnlichen Assoziationen der heiteren wie der bitteren Art rufen allein bereits die Papiere als Basismaterial hervor – als da sind: beinalte und blutjunge Fahr-, Eintritts-, Kartei- und Landkarten, Telefon- und Physiklehrbücher, Stadt- und Schaltpläne, Kassen- und Spickzettel, Noten- und Zeitungsblätter, Bestell- und Abrechungsformulare neben unbedrucktem, aber nichtsdestotrotz charaktervollem gekrepptem Toiletten-, geripptem Pack-, gefälteltem Seiden- und geknittertem Transparentpapier.
Von Vergänglichkeit derb gezeichnet gesellt sich als seelenverwandt wild verlebtes Sackleinen dazu, als Background für die choreographisch in Szene gesetzten Auftritte abgekämpfter alter Haudegen aus dem ländlichen oder urbanen Alltag. Und letztlich spiegeln auch die experimentellen Emails nicht anderes als den Blick in einen virtuellen Fundus der Impressionen von Urbanität im Wechselspiel flüchtiger Reflexionen von Licht und Schatten.
Vom Wasser wie vom Zahn der Zeit schlicht stromlinienförmig und so auf den Wesenskern zurück geknabbertes Treibholz wird in den sich am weitesten in den Raum hinein wagenden skulpturalen Objekten geradezu lianenhaft von bizarren Industrieglasarmaturen aus dem Chemieunterricht umschlungen, von denen eine zuvor ihrerseits hungrig einen widerborstigen Flaschenreiniger verschlungen hat: schicksalhafter Tango von Natur und Technik als Tanz auf dem Vulkan ewiger Verdammnis oder einfach nur Lust am sinnlich eindrucksvollen Kontrast von glatt und glänzend gegen schroff und schrundig, fest und dicht gegen fragil und transparent? Lassen wir’s einfach dahingestellt …!
Mit der Flaschenpost dagegen wäre man auf Reisen sicherlich immer wohlversorgt mit dem Lebensnotwendigsten – wer könnte sie wohl an wen gesandt haben – und was, wenn überhaupt etwas, enthalten die nach Trinker-Tarn-Brauch sorgsam papierumwickelten Flaschen?
Und geradezu Altäre von subtiler Ambivalenz sind in Ehren gealterten Werkzeugen unseres Alltags errichtet worden – wie etwa Oma Tittels Krauthobel in der Hommáge „Ohne Tit(t)el“.
Weniger vieldeutig erscheint dagegen zunächst das Familientreffen in der Erinnerungsschublade, die sehr viel Liebe und Wärme, auch Ehrfurcht vor den gelebten Leben, ihren Zeugnissen und Spuren einschließt – ganz ohne Ironie und Zeitsatire, dafür aber ein Sigmund-Freud-Parforceritt mit einem Schlüssel zum Glück, der die eigene Biografie aufschließt, die es ohne diese Menschen gar nicht gäbe – ein Blick hinunter durch Uropas dunkle Brille auf die eigenen Wurzeln inmitten von Uromas rosenzerblätterter zeitloser Schönheit.
Und all die Manifestationen menschlicher Energie und Phantasie erheben ihre Stimmen in diesem von Erinnerungen und Träumen bis zum Bersten angefüllten Raum und stoßen jeden von uns mit der Nase mitten auf unseren eigenen Fundus, unser eigenes inneres Universum.
Kati Münter bietet an, es auf dem Wege der Collage zu entdecken – auch durch eigene Aktionen hier in der Ausstellung – heute abend beispielsweise oder an Aktionstagen, so am 17.12. von 15 – 17 Uhr.
Und unvermittelt finden wir uns auf den Pfaden des alten Chinesen Lao-Tse wieder:
Bewahre die Fülle der Ruhe,
Und alle Dinge werden gedeihen.
So kann ich ihre Rückkehr erschauen.
Von allen Dingen in ihrer Vielfalt
Findet ein jedes zurück zur Wurzel.
Wurzelwiederfinden heißt Stille –
Was man nennen mag: Rückkehr zum Wesen.
Rückkehr zum Wesen heißt Ewigdauern,
Ewigdauerndes kennen heißt Klarheit.
Erfurt, 24.11.2006 | Dr. Jutta Lindemann