In letzter Zeit liest man immer wieder von Umfragen nach dem „Unwort des Jahres“, und die Auswahl wird entweder danach getroffen, dass die inhaltliche Bedeutung negativ bewertet wird oder die sprachliche Ästhetik der meist neuen Wortschöpfung. Für mich gehört in die erste Reihe der Kandidaten ein aktuelles Modewirt der Tourismusbranche: „Alleinstellungsmerkmal“.
Für alle, die noch nicht in den Genuss einer Begegnung mit dieser wohlklingenden Vokabel gekommen sind: Es meint einen Sachverhalt, ein Objekt oder Projekt, das so nur in dieser Stadt oder Region zu finden ist und es also unverwechselbar charakterisiert – etwas, das Marketingstrategen auch für Erfurt schon seit Jahren ebenso krampfhaft wie vergeblich suchen und dabei verzweifelt zwischen Dom, Krämerbrücke und Blumen respektive Blumensamen umherirren.
Aber warum in die Ferne schweifen – sieh, das Gute liegt so nah!
Bespielsweise liegt bzw. hängt es derzeit in der Michaeliskirche – ja, genau: moderne Emailkunst mit unverwechselbarer bildnerischer Handschrift, erarbeitet in den Erfurter Künstlerwerkstätten! Oder kennt jemand eine Stadt in Deutschland, wo es sowas nochmal gibt: Menschen aller Altersgruppen vom Kindergartenkind über den Fachschüler bis zum gestandenen Maler oder Schmuckkünstler, unter deren Händen großformatige experimentelle Bildwerke auf emaillierten Schubladenverblendungen und Abdeckplatten von schrottreifen Gas- und Elektro-Herden entstehen – ein über viele Jahre gewachsenes einmaliges und originelles Werk, dessen Ausstrahlung inzwischen nach dem Schneeballprinzip unaufhaltsam um sich greift und immer neue Menschen begeistert und in seinen Bann zieht?
Dieser Faszination eines in seiner Bedeutung leider noch nicht erkannten Erfurter Alleinstellungsmerkmals erlegen sind seit einigen Jahren auch die an dieser Ausstellung Beteiligten aus der Nachwuchsriege der Thüringer Emailkunstmannschaft, die von den Erfahrungen der Alten lernen und doch schon neue, eigene Sichten ins Spiel bringen.
Einerseits steigern sie auf individuelle Weise schon vorhandene Auffassungen etwa der dynamisch-tachistischen Malerei wie Flo Milker (in Arnstadt ausgebildeter Goldschmied, geboren 1984 in Weimar und ansässig in Erfurt) und teilweise Michael Ritzmann (Erfurt, Jahrgang 1982, Noch-Student der Erziehungs-wissenschaften) oder der streng geometrisch und technoid formulierten Konkreten Kunst wie Johannes Kaiser (Erfurt, Jahrgang 1966, Silberschmied/Metallgestalter) und Marco Habeck (Erfurt, Jahrgang 1983, Energieelektroniker/ Elektromechaniker und Grafittikünstler, Künstlernamen „detail“), andererseits fügen sie völlig neue Aspekte hinzu, die ihre Inspirationen aus dem modernen High-Tech-Design oder der figurativen Pictogrammsprache des zeitgenössischen Comics beziehen wie Norbert Reißig (Erfurt, 1984, Maler/Grafiker, Künstlername „absurd“), oder mixen die Konzepte von japanischer Holzschnitttradition, keltischer Ornamentikkultur und linear dominierter Jugendstilgrafik wie Michael Ritzmann in einer zweiten Schaffensrichtung – eine Auffassung, der auch Ludwig und Michael Kohl zuneigen.
Und zuweilen führt die Emailleidenschaft zu Ausbrüchen, die zu Aufbrüchen und Durchbrüchen werden, auch im direkten Sinne des Wortes, nämlich aus der Bildfläche heraus über die Brücke des Reliefs hin zur Skulptur mit Blick auf die Installation und das Environment, die Inszenierung des Raumes.
Na, da steht uns ja noch was bevor!
Und wie zu befürchten war, ist es kein Zufall, dass gerade diese fünf Emaillisten hier zur gemeinsamen Untat aufeinander gestoßen sind.
Neben allerlei Zufällen sind dafür vor allem drei Schuldige auszumachen: zwei wichtige Orte für künstlerisches Lernen in Erfurt – die Walter-Gropius-Gestaltungs-Oberschule und die schon erwähnten städtischen Künstlerwerkstätten, beliebte Tatorte für viele Kunstfreaks aller Sparten und Kaliber – und eine Person, die beides durch ausgesprochen seriöse Lehrtätigkeit verbindet: – der Senior, oder – um im Bild zu bleiben – gewissermaßen der Pate dieser Stammtischrunde Johannes Kaiser.
Und auch ein paar Ausstellungsorte wie die Rathausgalerie Etage 2 und der benachbarte Kulturhof Krönbacken haben diese Wiederholungstäter schon mehrmals zusammengeführt, um immer wieder neue Coups auszuhecken.
An einem besonders kühnen Coup nämlich erweist sich, dass der Hang zum Pädagogischen bereits eine Nachwuchspaten hervorgebracht hat: Michael Ritzmann (oder „ritzmän oder „molrok“ oder wie?) ist es gelungen, nicht nur Gleichaltrige zeitweilig unter seine Fuchtel zu bekommen, sondern sich sogar an wehrlosen Kindergartenzwergen sozusagen künstlerisch zu vergreifen – mit dem Ergebnis eines gewissermaßen Mehrgenerationenbildes, das der Kunsttheorie doch erst einmal die Sprache verschlägt. Denn strittig ist und bleibt es einerseits eben schon, ob es statthaft ist, autarke Pinselhiebe des Nachwuchses, entstanden im Mehrschichtbetrieb von über 30 Kita-Knirpsen während eines turbulenten Kurstages in den Künstlerwerkstätten, nachträglich zu überformen. Aber überzeugend ist andererseits auch die Idee, gemeinsam für den Pergamenter-Kindergarten eine originelle Gestaltung zu schaffen, die zu weiteren künstlerischen Untaten herausfordern kann und sicherlich auch soll – nicht nur durch die Verwegenheit des Generationensprungs, sondern auch durch die daraus entstandene Inkaufnahme gestalterischer Widersprüchlichkeit, die die Mühlen der Irritation, aber auch der Phantasie beim Betrachter rotieren lässt.
Der Staffelstab ist also weitergegeben, und auch kleinste Finger können ihn schon halten, auch wenn sie noch gar nicht wissen, welchen Schatz sie da in Händen halten – aber so der Gott des Emailfeuers will, werden sie es bald erfahren; in der Emailstadt Erfurt ist das unausweichlich.
Und außerdem gibt es ja genug Besessene, die sie bei der Hand nehmen auf dem Weg in die unendlich reiche Wunderwelt der Kunst – und selbst wenn es nicht die des Emails werden sollte.
Denn Kunst ist zwar nicht alles, aber alles ist nichts ohne Kunst!
Und glaubt mir, das ist kein Quatsch, Kinder!
Erfurt, 04.03.2007 | Dr. Jutta Lindemann